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Der Sommermörder

Titel: Der Sommermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Tagen geschrieben hatte. Der Kerl war also ein weiteres Mal an meine Haustür gekommen. Keine sehr angenehme Vorstellung.
    Nachdem ich einen Augenblick auf den Brief hinuntergestarrt hatte, wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder Nick zu, der mich fragend ansah.
    »Entschuldigung, was haben Sie gerade gesagt?«, fragte ich.
    »Ihre Tasche. Soll ich Ihnen Ihre Tasche abnehmen?«
    Wortlos reichte ich sie ihm.
    Mittlerweile hatte ich meine Führung durch die Wohnung auf die optimale Länge von drei Minuten beschränkt, in denen ich souverän sämtliche positiven Dinge präsentierte und all jene, die meiner Immobilie nicht notwendigerweise zum Vorteil gereichten, geschickt mied. Hin und wieder stellte mir Nick eine von den Fragen, die ich inzwischen zur Genüge kannte.
    »Warum ziehen Sie um?«
    Glaubte er wirklich, dass er einen alten Hasen wie mich so leicht in die Falle locken konnte?

    »Ich möchte näher bei meiner Arbeitsstelle wohnen«, flunkerte ich.
    Er warf einen Blick aus dem Fenster. »Ist der Verkehr ein Problem?«
    »Darüber habe ich nie nachgedacht.« Das war ein bisschen mehr als gelogen. Wenigstens lachte er nicht. Ich legte den Brief ungeöffnet auf den Tisch. »Praktisch ist, dass es so viele Läden in der Nähe gibt.«
    Er schob die Hände in die Taschen und stellte sich in die Mitte des Wohnzimmers, als würde er versuchen, sich in die Rolle des Wohnungseigentümers hineinzuversetzen. Er sah dabei aus wie ein Gutsherr, der sein – allerdings sehr kleines – Anwesen inspizierte.
    »Sie sind nicht aus London«, bemerkte er.
    »Woraus schließen Sie das?«
    »Sie klingen nicht danach. Ich versuche gerade, Sie einzuordnen. Ihrem Namen nach müssten Sie eigentlich Armenierin sein, aber so hören Sie sich auch nicht an.
    Wobei ich zugeben muss, dass ich gar nicht so genau weiß, wie ein armenischer Akzent klingt. Vielleicht sprechen ja alle Armenier so wie Sie.«
    Ich hatte immer ein ganz komisches Gefühl, wenn Leute, die sich die Wohnung ansahen, persönlich wurden, aber in diesem Fall konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen.
    »Ich bin in einem Dorf in der Nähe von Sheffield aufgewachsen.«
    »Das war bestimmt ganz anders als London.«
    »Allerdings.«
    Einen Moment lang schwiegen wir beide.
    »Ich würde die Sache gern überschlafen«, meinte Nick schließlich mit ernstem Gesichtsausdruck. »Würde es Sie stören, wenn ich demnächst wiederkomme und mir das Ganze noch mal ansehe?«
    Ich fragte mich, ob sein Interesse wirklich primär der Wohnung galt, machte mir deswegen aber keine allzu großen Gedanken. Selbst das kleinste bisschen von Interesse war positiv zu werten. »Kein Problem«, antwortete ich.
    »Darf ich Sie direkt anrufen, oder soll ich mich erst an den Makler wenden?«
    »Wie Sie wollen. Ich bin ziemlich lange in der Arbeit.«
    »Was machen Sie?«
    »Ich unterrichte an einer Grundschule.«
    »Beneidenswert«, sagte er. »Die vielen Ferien.«
    Ich zwang mich zu einem Lächeln.
    »Ihre Nummer«, fuhr er fort. »Kann ich Ihre Telefonnummer haben?«
    Ich nannte sie ihm, und er tippte sie in ein Ding, das aussah wie ein etwas größerer Taschenrechner.
    »Es war nett, Sie kennen zu lernen, ähm …?«
    »Zoë.«
    »Zoë.«
    Ich hörte, wie er beim Hinuntergehen jeweils zwei Treppenstufen auf einmal nahm. Dann war ich allein mit meinem Brief. Eine Weile versuchte ich, die Coole zu spielen, indem ich mir erst mal einen Instantkaffee machte und eine Zigarette anzündete. Dann öffnete ich den Umschlag und faltete den Briefbogen vor mir auseinander: Liebe Zoë,
    vielleicht täusche ich mich, aber mir scheint, du hast noch nicht so viel Angst wie von mir geplant. Wie du weißt, beobachte ich dich. Vielleicht beobachte ich dich sogar in diesem Augenblick, während du diese Worte liest.

    Es war blöd von mir, aber ich hob den Kopf und sah mich im Zimmer um, als könnte ich jemanden dabei ertappen, wie er mir über die Schulter blickte.

    Wie gesagt, ich möchte in dich hineinsehen. Das ist es, was mich wirklich interessiert. Ich möchte dich von innen sehen, diejenigen Teile von dir, die du selbst niemals zu Gesicht bekommen wirst, ich aber schon.
    Vielleicht liegt es daran, dass du dich in deiner schrecklichen kleinen Wohnung, die du nicht verkaufen kannst, sicher fühlst. Du bist aber nicht sicher. Denk zum Beispiel an dein hinteres Fenster. Es ist leicht, auf den Schuppen im Garten hinter dem Haus zu klettern und dann durch das Fenster einzusteigen. Du solltest ein richtiges Schloss

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