Der Sommermörder
lächelt zu viel, und sie lacht zu oft. Sie genießt es zu flirten. Sie trägt gern dünne, knappe Sachen. Ich kann durch den Stoff ihres Kleids ihre Beine sehen, die Form ihrer Brustwarzen erahnen. Sie geht sorglos mit ihrem Körper um.
Sie redet sehr schnell, mit einer hellen, leicht heiseren Stimme. Sie sagt oft »jap« statt ja. Sie hat graue Augen.
Sie hat noch keine Angst.
5. KAPITEL
eder Mensch weiß, dass fast überall auf der Welt, J außer vielleicht in so geschäftigen Ländern wie Japan, spätestens gegen halb vier oder vier Schulschluss ist, wobei ich mit den kleinen Dingen, die ich lehre, sogar noch eher fertig bin, so gegen Viertel nach drei. Selbst Leute, die keine Ahnung von Kindern haben, wissen das.
Sie sehen Jungen und Mädchen an der Hand ihrer Mutter die Hauptstraße entlanggehen oder, beladen mit Schultaschen und Pausenboxen, hinter einer anderen Aufsichtsperson hertrödeln. Ich hatte bereits gelernt, dass sich der Verkehr in der Londoner Rushhour etwa zur Hälfte aus riesigen Menschentransportern zusammensetzte, die bedrückt dreinblickende Kinder in Uniform die weiten Strecken zwischen ihren schönen Elternhäusern und den ihnen standesgemäßen Schulen hin und her kutschierten. Denn natürlich besteht – wie ich ebenfalls bald herausgefunden hatte – für die Londoner Eltern eines der wichtigsten Statussymbole in der Strecke, die sie ihre Kinder transportieren müssen. Die Schule nebenan ist etwas für arme Leute, wie ich sie unterrichte.
Wenn die Leute erfahren, dass ich Lehrerin bin, beneiden sie mich immer um meine kurze Arbeitszeit und die langen Ferien, was ein ziemlicher Witz ist. Bis zu einem gewissen Grad geschieht es mir natürlich recht, weil eben dieser Aspekt eines der weniger noblen Motive war, weshalb ich diesen Beruf ergriff. Meine eigene schulische Laufbahn war nicht besonders erfolgreich verlaufen, sodass ich nicht die nötigen Voraussetzungen besaß, um etwas wirklich Wichtiges zu studieren und mich beispielsweise der Betreuung kranker Katzen zu widmen, was früher einmal mein Berufswunsch gewesen war.
Meine Leistungen hatten bloß ausgereicht, um kleine Kinder zu unterrichten. Das kam mir durchaus entgegen.
Ich mochte Kinder, ihre Durchschaubarkeit, ihren Eifer, ihr Potenzial. Mir gefiel die Vorstellung, den ganzen Tag um einen Sandkasten herumzustehen, Kleinkindern die Nase zu putzen und ihnen beim Mischen ihrer Malfarben zu helfen.
Stattdessen war ich in einem Job gelandet, der einem eher das Gefühl gab, mitten in einem Zoo als Buchhalter zu arbeiten. Nur dass die Arbeitszeiten länger waren als bei einem Buchhalter. Nachdem die Kinder abgeholt und in ihre Wohnsiedlungen und Hochhäuser zurückgebracht worden waren, trafen wir uns zu Lehrerkonferenzen, füllten stapelweise Formulare aus, planten und organisierten. Pauline schien nie nach Hause zu gehen und wäre wahrscheinlich besser dran gewesen, wenn sie in ihrem Büro ein Feldbett und einen Gaskocher aufgestellt hätte.
Ich machte an diesem Abend eher Schluss, weil ich noch einen Termin mit einem Mann hatte, der sich die Wohnung ansehen wollte. Natürlich musste ich wieder Ewigkeiten auf den Bus warten, sodass der Typ bereits mit einer Zeitung vor der Tür stand, als ich schließlich keuchend den Gehsteig entlanggerannt kam. Ich hatte ihm, auch wenn es nur fünf Minuten Verspätung waren, schon zu viel Zeit gelassen, sich die Gegend anzusehen. Zum Glück schien er völlig in seine Lektüre vertieft zu sein.
Vielleicht hatte er das Pub gar nicht bemerkt, oder zumindest nicht ganz realisiert, was es bedeutete. Er trug einen etwas eigenwillig geschnittenen Anzug mit asymmetrischen Revers, wahrscheinlich ein sündhaft teures Teil. Ich schätzte ihn auf Ende zwanzig, vielleicht Anfang dreißig. Er trug das Haar sehr kurz und wirkte trotz der Hitze frisch und gepflegt.
»Tut mir wirklich Leid!«, keuchte ich. »Der Bus!«
»Kein Problem«, meinte er. »Ich bin Nick Shale. Und Sie sind bestimmt Miss Haratounian.« Wir reichten uns zur Begrüßung die Hand. Er musterte mich grinsend.
»Verraten Sie mir, was Sie so lustig finden?«, fragte ich.
»Ich habe Sie mir als grimmige alte Dame vorgestellt.«
»Oh.« Ich bemühte mich, höflich zu lächeln.
Ich schloss die Haustür auf. Auf der Türmatte lag der übliche Müll, Werbung für Pizzadienste, Fensterputzer und Taxiunternehmen, außerdem ein unfrankierter Brief.
Ich erkannte die Handschrift sofort. Er war von dem Widerling, der mir schon vor ein paar
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