Der Sommermörder
über deren Schicksal per gerichtliche Verfügung entschieden wurde, Kinder mit Akten im Sozialamt. Ich zählte sie rasch durch. Einunddreißig. Sie waren alle da. Keins von meinen Schäfchen war unbemerkt nach Hause marschiert.
Ich hatte es auch nicht versäumt, wichtige Medikamente zu verabreichen. Niemand hatte Schaum vor dem Mund.
Ich fühlte mich schon viel besser. Was konnte da noch Schlimmes kommen?
Auf dem Weg in Paulines Büro, das nicht weit von meinem Klassenzimmer entfernt lag, ging mir durch den Kopf, dass zumindest die Schule ein Ort war, den ich liebte, wenn ich schon meine eigene Wohnung hasste. In der kleinen Eingangshalle befand sich ein kleines Bassin aus Ziegelsteinen, in dem ein paar große, fette Fische herumschwammen. Wie immer tauchte ich im Vorbeigehen meine Finger hinein, weil das angeblich Glück brachte. Die Schule lag an einer stark befahrenen Londoner Fernverkehrsstraße. Das Gebäude wurde den ganzen Tag von vorbeidonnernden Lastwagen erschüttert, die nach East Anglia hinauf fuhren oder hinunter über den Fluss und dann weiter in Richtung Kent und Südküste. Um mit den Kindern in den nächsten kümmerlichen Park zu gelangen, musste man sie ein Stück die Straße entlang und über zwei gefährliche Kreuzungen führen. Die Schule selbst aber war für mich ein Ort wie aus einer anderen Welt. Inmitten von Lärm und Staub, hatte sie fast etwas von einem Kloster. Das war es, was ich an ihr mochte.
Selbst dann, wenn die Kinder schreiend durch die Gänge rannten, empfand ich sie als eine Art Refugium.
Vielleicht lag es bloß an diesen dämlichen Fischen, dass ich so empfand, und wahrscheinlich sah ich das alles sowieso völlig falsch. Ich musste daran denken, dass ich als Kind einmal in einem Lexikon gelesen hatte, dass Wasser Geräusche besser leitet als Luft. Wahrscheinlich verbrachten die Fische ihr ganzes Leben damit, über den Verkehrslärm zu jammern und sich nach einem anderen, schöneren Ort zu sehnen. Ich versuchte mir ins Gedächtnis zu rufen, wie es war, wenn ich in der Badewanne den Kopf untertauchte, um mir das Shampoo aus dem Haar zu spülen. Hörte ich dann draußen die Lastwagen vorbeidonnern? Ich konnte mich nicht erinnern.
Pauline stand mit einer Frau, die ich vom Sehen kannte, in der halb offenen Tür. Sie sprachen nicht miteinander, und es sah aus, als hätten sie die ganze Zeit schweigend auf mein Eintreffen gewartet. Die Frau tauchte jeden Nachmittag kurz vor Ende der letzten Stunde an der Klassenzimmertür auf. Elinors Mutter. Ich begrüßte sie mit einem Nicken, aber sie wandte den Kopf ab. Irritiert überlegte ich, ob sich Elinor an diesem Morgen anders verhalten hatte als sonst. Hatte sie einen aufgeregten Eindruck gemacht? Meines Wissens nicht. Ich versuchte mir das Mädchen in der Klasse vorzustellen, die ich gerade verlassen hatte. Mir war nichts Ungewöhnliches aufgefallen.
»Schließen Sie bitte die Tür hinter sich«, bat Pauline, während sie mich hineinführte. Die Mutter blieb draußen.
Pauline forderte mich mit einer Handbewegung auf, auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen. »Das war Gillian Tite, die Mutter von Elinor.«
»Ja, ich weiß.«
Mir fiel auf, dass Pauline sehr bleich aussah und zitterte.
Sie war entweder sehr aufgeregt oder so wütend, dass sie sich kaum beherrschen konnte.
»Haben Sie Ihrer Klasse letzte Woche eine Hausaufgabe aufgegeben?«
»Ja. Wenn man das überhaupt so nennen kann.«
»Was war das?«
»Eine Zeichenaufgabe. Nur so zum Spaß. Wir hatten über Geschichten gesprochen, und ich bat sie, in ihrem Malheft ein Bild von einer ihrer Lieblingsgeschichten zu zeichnen.«
»Wie sind Sie dann weiter verfahren?«
»Ich versuche, die Kinder daran zu gewöhnen, ihre Hausaufgaben termingerecht zu machen und abzugeben.
Deswegen habe ich die Hefte am Mittwoch eingesammelt.
Ja, ich glaube, es war am Mittwoch. Ich bin mir ziemlich sicher. Zu Hause habe ich sie dann gleich durchgesehen.«
Ich konnte mich noch gut daran erinnern – ich hatte über den Heften gesessen, während dieser seltsame Typ, der sich meine Wohnung anschauen wollte, in der Schublade mit meiner Unterwäsche herumschnüffelte. Das war der Tag gewesen, an dem ich den Brief auf der Fußmatte gefunden hatte. »Ich habe nette Kommentare dazu geschrieben und ihnen die Hefte am nächsten Morgen zurückgegeben. Vielleicht hat Elinors Mutter erwartet, dass ich die Bilder benoten würde, aber für diese Art von Hausaufgabe sind sie noch zu
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