Der Sommermörder
klein.«
Pauline schien mir gar nicht zuzuhören. »Können Sie sich an Elinors Bild erinnern?«
»Nein.«
»Heißt das, Sie haben sich die Zeichnungen gar nicht richtig angeschaut?«
»Natürlich habe ich sie mir angeschaut. Ich habe gleich zu Anfang einen Blick darauf geworfen, nachdem die Kinder bereits im Unterricht mit dem Zeichnen begonnen hatten, und unten auf jedes Blatt einen passenden Titel geschrieben. Später habe ich dann die fertigen Arbeiten, die ich eigens mit nach Hause genommen habe, durchgesehen. Natürlich habe ich nicht Stunden auf jedes einzelne Bild verwandt, aber ich habe sie mir alle angesehen und etwas dazugeschrieben.«
»Elinors Mutter war in Tränen aufgelöst, als sie vorhin bei mir eintraf«, sagte Pauline. »Das hier ist Elinors Zeichnung. Schauen Sie sich das mal an.«
Sie schob ein vertraut wirkendes, großformatiges Heft über den Schreibtisch. Es war aufgeschlagen, und auf dem unteren Teil der Seite erkannte ich meine Schrift.
»Dornröschen.« Elinor hatte einen ziemlich kläglichen Versuch unternommen, die Worte selbst noch einmal abzumalen. Das D war seltenverkehrt, und gegen Ende zu wurden die Buchstaben immer kleiner. Mit der Zeichnung hingegen verhielt es sich völlig anders. Sie hatte nichts mehr vom Bild eines kleinen Kindes. Zwar waren noch hier und dort Spuren von Elinors krakeliger Linienführung zu sehen, aber das Ganze war übermalt und ausgeschmückt worden. Das Mädchen lag jetzt in einem detailgetreu wiedergegebenen Zimmer. In meinem Zimmer. Meinem Schlafzimmer. Zumindest waren Teile davon in die Zeichnung aufgenommen worden, beispielsweise das Bild von der Kuh, das mich schon mein ganzes Leben begleitete, und der Spiegel, über dessen Rahmen ich die Kordel einer Beuteltasche gehängt hatte.
Ich hatte den Beutel längst aufräumen wollen, war bisher aber nicht dazugekommen.
Das Mädchen auf dem Bett schlief nicht, und es war auch nicht Dornröschen, sondern ich. Zumindest trug es meine Brille. Das Bett selbst ähnelte eher einem Tisch in einer Leichenhalle. Der Körper des Mädchens wies lange Schnitte auf, aus denen die Eingeweide und andere innere Organe heraushingen. Teile des Körpers, vor allem rund um die Vagina – meine Vagina – waren derart verstümmelt, dass sie kaum mehr zu erkennen waren. Mir wurde schlagartig übel, und ich spürte, wie mir bittere Galle in den Mund stieg. Ich schaffte es zwar, das Zeug bei mir zu behalten und wieder hinunterzuschlucken, aber durch die Säure brannte mein Hals so heftig, dass ich husten musste. Ich zog ein Taschentuch heraus und wischte mir den Mund ab. Dann schob ich das Heft wieder zu Pauline hinüber. Sie musterte mich mit ernstem Blick.
»Falls das Ihr Werk ist und irgendeine seltsame Art von Scherz sein soll, dann sagen Sie es mir besser gleich. Also, waren Sie das?«
Ich brachte kein Wort heraus. Pauline klopfte auf den Tisch, als wollte sie mich aufwecken. »Zoë. Ist Ihnen eigentlich klar, in welcher Lage Sie sich befinden? Was soll ich denn nun Ihrer Meinung nach tun?«
Meine Augen brannten. Ich durfte jetzt nicht weinen. Ich musste stark sein, durfte auf keinen Fall zusammenbrechen.
»Rufen Sie die Polizei an«, brachte ich mühsam hervor.
11. KAPITEL
auline war skeptisch und wollte erst nicht, aber ich bestand darauf. Ich würde ihr B
P
üro erst wieder
verlassen, wenn in dieser Sache endlich etwas unternommen wurde. Carthy hatte mir seine Visitenkarte gegeben, aber meine Hände zitterten so, dass ich eine Weile in meiner Geldbörse herumkramen musste, bis ich sie herausbekam. Pauline wirkte sichtlich überrascht, als ich umständlich die Nummer tippte und dabei immer wieder auf die Karte sah. Sie hatte wohl angenommen, dass ich hysterisch die 999 wählen würde.
»So was ist schon mal passiert«, erklärte ich. »So was Ähnliches.«
Ich fragte nach Carthy. Er war nicht zu sprechen, und ich wurde zu Aldham durchgestellt, der in meinen Augen nur ein unzureichender Ersatz war. Ich redete wie wild auf ihn ein, sagte ihm, er müsse sofort in die Schule kommen, auf der Stelle. Aldham zog nicht so recht, aber ich kündigte an, mich bei seinen Vorgesetzten zu beschweren, wenn er nicht käme, und drohte mit allem, was mir sonst noch in den Sinn kam. Schließlich erklärte er sich doch bereit.
Nachdem ich ihm die Adresse der Schule gegeben hatte, legte ich rasch auf. Dann zündete ich mir eine Zigarette an. Pauline wies mich darauf hin, dass das Rauchen nur im Lehrerzimmer erlaubt sei, worauf
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