Der Sommermörder
mit ruhiger Hand voll schenkte. Er erzählte mir, dass er in Norfolk leben, aber unbedingt eine Wohnung in London kaufen wolle, weil er während der Woche oft drei bis vier Tage in der Stadt zu tun habe.
»Dann ziehen Sie also in Betracht, meine bescheidene Behausung zu Ihrer Zweitwohnung zu machen. Was für eine Ehre!«
»Zum Wohl.«
»Ich muss leider gleich weg. Ich habe noch eine Verabredung«, erklärte ich, was natürlich gelogen war.
Mein Terminkalender fürs Wochenende war leer.
»Ist es nicht schon ein bisschen spät zum Ausgehen?«, fragte er, nachdem er sein Glas geleert hatte.
Ich gab ihm darauf keine Antwort. Schließlich war ich einem Mann, den ich kaum kannte, keine Rechenschaft schuldig. »Sie sollten Ihre Flasche wieder mitnehmen«, forderte ich ihn auf.
»Nein, behalten Sie sie.« Er wandte sich zum Gehen.
»Was ist nun mit der Wohnung?«
»Sie gefällt mir«, antwortete er. »Ich melde mich bei Ihnen.«
Ich hörte, wie unten die Haustür ins Schloss fiel.
Irgendwie fand ich den Typen ganz in Ordnung. Ich fragte mich, was er wohl für eine Handschrift hatte.
10. KAPITEL
m nächsten Tag kam ich mir im Unterricht vor wie ein Roboter, dem
A
es einigermaßen gelang, eine
Grundschullehrerin zu spielen. Während der Roboter den Kindern etwas über Buchstaben erzählte, war ich irgendwo in seinem Inneren damit beschäftigt, mir über ein paar Dinge Klarheit zu verschaffen. Ich musste schleunigst die Wohnung loswerden. Dieser Gedanke war wie eine Melodie, die einen nicht loslässt. Ich hatte das deutliche Gefühl, dass ich, wenn es mir gelänge, die Tür hinter diesem ungeliebten Stück Wohnraum zuzuschlagen, auch in der Lage sein würde, die Tür hinter anderen Dingen zu schließen. Eigentlich wäre es nahe liegender gewesen, die Wohnung sicherer zu machen, aber das erschien mir falsch. Eine zerbrochene Flasche wusch man schließlich auch nicht mehr aus. Der einzige Weg, die Wohnung besser und sicherer zu machen, bestand darin, sie zu verlassen. Etwas anderes kam nicht in Frage. Gleich am Wochenende würde ich anfangen, mich ernsthaft nach einer anderen Bleibe umzusehen.
Ich war noch zu jung gewesen, als ich die Wohnung erworben hatte. Das mir von Dad hinterlassene Geld war mir wie Monopoly-Geld vorgekommen: zu viel, um echt zu sein. Er hatte gesagt, ich solle mir davon meine eigenen vier Wände leisten. Ich hatte das fast als eine Art letzten Wunsch empfunden. Mein Vater war ein Mann, der glaubte, dass man sicher war, sobald man seine eigene Wohnung besaß. Dann konnte einem die Welt nichts mehr anhaben, egal, was passierte. Also handelte ich wie eine brave Tochter – auch wenn ich natürlich keine Tochter mehr war, denn ich besaß ja keine Eltern mehr. Ich war ganz allein, ein einsames und verängstigtes Mädchen –
und ich tat, wie mein Vater mich geheißen hatte. So schnell ich konnte, erfüllte ich ihm seinen letzten Wunsch, und da ich aus einem ruhigen kleinen Dorf kam, beschloss ich spontan, mir etwas zu suchen, das in einer wirklichen Stadt lag, dort, wo das Leben stattfand, wo Läden, Märkte und Menschen waren, der Trubel und der Lärm. Was das betraf, war ich definitiv erfolgreich gewesen.
»Zoë?«
Ich erwachte aus einem Zustand, der sich für mich wie Schlaf angefühlt hatte, auf einen Beobachter aber wie hektische Betriebsamkeit gewirkt hätte (ich war selbst fast ein wenig erstaunt, in meiner Hand ein Stück Kreide zu entdecken und an der Tafel die Großbuchstaben B und P, die ich fein säuberlich und wie in Trance aufgemalt hatte).
Ich drehte mich um. Es war Christine, eine unserer Spezialistinnen für Problemfälle. Es gab an unserer Schule eine Menge solcher Fälle. Oft sah man Christine an einem behelfsmäßigen Schreibtisch auf dem Gang sitzen und mit Kindern reden, die an Unterernährung litten, missbraucht worden waren oder gerade aus einem Kriegsgebiet in Osteuropa oder Zentralafrika kamen.
»Pauline möchte dich sprechen«, erklärte sie. »Es ist dringend. Ich übernehme hier.«
»Warum?«
»Eine Mutter ist bei ihr. Ich glaube, sie ist wegen irgendwas sehr aufgeregt.«
»Oh.«
Ich spürte einen dumpfen Schmerz in der Magengegend, als stünde mir irgendein größeres Unheil bevor. Mein Blick wanderte durch die Klasse. Was konnte es sein? Der Wechsel in meiner Klasse war erstaunlich. Die Leute zogen mit ihren Kindern oft ohne jede Vorankündigung weg, manchmal sogar ins Ausland. Schnell nahmen andere Problemkinder ihre Plätze ein. Wir hatten Schüler,
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