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Der Sommermörder

Titel: Der Sommermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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ihrer Großmutter, die noch lebte.
    Swansea bedeutete für sie Regen, graue Schieferplatten, dicke Wolken und Hügel, sagte sie. Sie habe immer gewusst, dass sie mal nach London gehen werde.
    Ich erzählte ihr von dem Dorf, aus dem ich kam und das eigentlich nur aus ein paar verstreuten Häusern und einem Postamt bestand. Von meinem Vater, der tagsüber schlief und nachts Taxi fuhr, bis er eines Tages genauso ruhig und bescheiden starb, wie er gelebt hatte: ohne jemals die Aufmerksamkeit anderer auf sich lenken zu wollen. Dann erzählte ich ihr, wie ich mit zwölf Jahren meine Mutter verloren hatte. Wie sie mir schon in den zwei Jahren davor immer mehr entglitten war, sich in ihre eigene Welt des Schmerzes und der Angst zurückgezogen hatte. Oft stand ich an ihrem Bett, hielt ihre kalte, knochige Hand und spürte dabei, wie fremd sie mir geworden war. Ich erzählte ihr von den Dingen, die ich an diesem Tag gemacht hatte, oder richtete ihr Grüße von Freunden aus, sehnte mich aber insgeheim danach, draußen bei meinen Freundinnen zu sein oder in meinem Zimmer, wo ich so gern las und Musik hörte – oder an irgendeinem anderen Ort, bloß nicht hier, in diesem eigenartig riechenden Krankenzimmer, bei dieser Frau mit dem eingefallenen Gesicht, die mich aus großen Augen anstarrte. Sobald ich sie aber verlassen hatte, fühlte ich mich seltsam schuldig und verstört. Und dann, als sie tot war, sehnte ich mich danach, wieder in ihrem Schlafzimmer zu sitzen, ihre schmale Hand zu halten und ihr von meinem Tag zu erzählen. Manchmal konnte ich noch immer nicht glauben, dass ich sie niemals wieder sehen würde.
    Ich sagte zu Louise, dass ich seit damals nie mehr so genau gewusst hätte, was ich machen oder wo ich sein wollte. Dass ich als Lehrerin in Hackney gelandet sei, sei mehr oder weniger Zufall gewesen. Eines Tages aber würde ich weggehen und etwas anderes tun. Eines Tages würde ich meine eigenen Kinder haben.
    Louise bestellte uns eine Pizza. Ich lieh mir ihren knallroten Bademantel aus, und wir setzten uns aufs Sofa und aßen öltriefende Pizzastücke, tranken dazu billigen Rotwein und sahen uns Und täglich grüßt das Murmeltier auf Video an. Natürlich kannten wir den Film schon, aber zum Entspannen erschien er uns genau richtig.
    Ein paar Mal klingelte das Telefon. Sie unterhielt sich dann mit leiser Stimme, die Hand vor den Hörer gelegt, und sah dabei hin und wieder zu mir herüber. Einmal war es für mich: Detective Sergeant Aldham. Einen Moment lang dachte ich, er würde mir vielleicht sagen, dass sie den Kerl erwischt hätten. Eine vergebliche Hoffnung. Er wollte nur hören, wie es mir ging, und mir noch einmal sagen, dass ich nicht ohne Begleitung in die Wohnung zurückkehren und mit keinem Mann allein bleiben solle, den ich nicht gut kannte, und dass die Polizei am Montag ebenfalls noch einmal mit mir sprechen wolle, zusammen mit Dr. Schilling. Ich solle dafür mehr Zeit einplanen, es werde länger dauern, sagte er.
    »Seien Sie vorsichtig, Miss Haratounian«, verabschiedete er sich. Die Tatsache, dass er es geschafft hatte, meinen Namen richtig auszusprechen, machte mir fast noch mehr Angst als sein ernster, respektvoller Ton.
    Ich hatte mir gewünscht, dass sie mich ernst nehmen würden. Nun nahmen sie mich ernst.
    Louise bestand darauf, mir ihr Bett zu überlassen. Sie selbst wickelte sich in ein Leintuch und legte sich auf die Couch. Ich befürchtete, nicht einschlafen zu können, und lag auch tatsächlich noch eine Weile wach, während die Gedanken in meinem Kopf umherschwirrten wie Fledermäuse, die ihre Orientierung verloren hatten. Die Nachtluft war schwül und drückend, und ich konnte auf dem Kissen kein kühles Fleckchen finden. Louises Wohnung lag in einer ruhigen Straße. Ein paar Katzen lieferten sich einen Kampf, der Deckel einer Mülltonne klapperte, und ein einzelner Mann ging die Straße hinunter und sang dabei »O Little Town of Bethlehem«. Trotzdem muss ich bald eingeschlafen sein, und das Nächste, woran ich mich erinnern konnte, war der Geruch von verbranntem Toast. Durch die blau gestreiften Vorhänge flutete das Tageslicht herein. In den Lichtstrahlen tanzten Staubkörnchen. Drüben im Wohnzimmer klingelte das Telefon, und eine Minute später steckte Louise den Kopf zur Schlafzimmertür herein. »Tee oder Kaffee?«
    »Kaffee, bitte.«
    »Toast oder Toast?«
    »Für mich nichts, danke.«
    »Dann also Toast.«
    Sie verschwand wieder, und ich kämpfte mich aus dem Bett. Ich fühlte

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