Der Sommermörder
aufzupassen.«
Lynne sah mich mit ernster Miene an. »Sie sollten so was nicht sagen. Es war fürchterlich. Wir haben uns Ihretwegen ganz schrecklich gefühlt. Das tun wir immer noch.«
»Immer noch?«
»Na ja, wir sind natürlich froh, dass wir den Schuldigen erwischt haben, aber weniger begeistert darüber, dass es Mr. Hintlesham ist.«
Es dauerte eine Weile, bis ich ihr darauf eine Antwort gab. Über Lynnes Schulter hinweg blickte ich in den Garten hinaus. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie selbst Francis es schaffen sollte, ihn innerhalb von zwei Wochen so hinzukriegen, dass man das Ganze verkaufen konnte.
Nun ja, wir würden sehen.
»Mir fallen bloß immer wieder Einzelheiten aus unserer Ehe ein, und ich frage mich wirklich, wie es dazu kommen konnte. Ich weiß, dass wir Probleme hatten, aber ich verstehe trotzdem nicht, wieso er mich so hasste. Was habe ich ihm getan? Was hat ihm dieses arme Mädchen getan, diese Zoë, außer dass sie mit ihm ins Bett gegangen ist?« Lynne wich meinem Blick nicht aus, das muss ich zu ihrer Ehrenrettung sagen, aber Antwort gab sie mir keine.
»Und selbst wenn er wirklich einen solchen Hass auf mich hatte, musste er dann gleich auf die Idee kommen, mich umzubringen? Mich leiden lassen? Ich hätte ihm das nie zugetraut. Sie vielleicht? Nun sagen Sie schon was!«
Lynnes Blick wirkte etwas unsicher.
»Ich muss da vorsichtig sein«, erklärte sie. »Wegen der gerichtlichen Anhörung und all dem. Aber Menschen tun nun mal solche Dinge. Mr. Hintlesham hatte jemand anderen kennen gelernt, und er wusste, dass Sie nicht in eine Scheidung einwilligen würden.« Sie zuckte mit den Achseln. »Der letzte Mörder, mit dem ich zu tun hatte, war ein vierzehnjähriger Junge, der seine Oma umbrachte, weil sie sich weigerte, ihm Geld für ein Lotterielos zu geben. Wie eine von meinen Ausbilderinnen immer gesagt hat: Man braucht keine besondere Qualifikation, um zum Mörder zu werden.«
»Demnach trauen Sie ihm ein solches Verbrechen also wirklich zu? Glauben Sie, man wird ihn schuldig sprechen?«
Lynne zögerte einen Moment, ehe sie antwortete. »Es wird erst dann gegen jemanden Anklage erhoben, wenn eine Wahrscheinlichkeit von fünfundsiebzig Prozent besteht, dass es zu einer Verurteilung kommt. So weit ich weiß, hat die Staatsanwaltschaft im Fall Ihres Mannes nicht gezögert, Anklage zu erheben. Zum einen besteht eindeutig eine Verbindung zu dem toten Mädchen, Zoë, auch wenn Ihr Mann versucht hat, das zu leugnen. Hinzu kommen sein fehlendes Alibi und die gegen Sie gerichteten Drohungen, seine Affäre, sein klares Motiv.
Da hat er schlechte Chancen, ungeschoren davonzukommen.«
»Was, wenn der Mordfall separat verhandelt wird?«, fragte ich zögernd.
»Keine Chance!«, antwortete Lynne. »Aufgrund der Briefe, die Sie beide bekommen haben, sind die beiden Fälle untrennbar miteinander verbunden.«
»Die halbe Zeit glaube ich, dass er unschuldig ist und zu Unrecht verurteilt werden wird, und die restliche Zeit befürchte ich, dass er schuldig ist und ungeschoren davonkommt. Er ist clever. Und er ist Anwalt. Ich weiß einfach nicht, was ich denken soll.«
»Er wird nicht davonkommen«, erwiderte Lynne bestimmt.
Wir tranken unseren Kaffee und rauchten unser Zigaretten zu Ende.
»Haben Sie schon gepackt?«, fragte sie.
»Das ist einer der nächsten Punkte auf meiner Liste«, erwiderte ich. »Ich nehme nur eine kleine Tasche mit.«
Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Ich glaube, ich gehe jetzt besser.«
»Es wird ein seltsames Gefühl sein, nicht mehr bewacht zu werden«, erklärte ich.
»Sie werden nicht völlig unbewacht sein. Wir haben weiter ein Auge auf Sie.«
Ich verzog das Gesicht. »Heißt das, die Polizei ist sich nicht ganz sicher?«
»Nur um zu sehen, ob es Ihnen gut geht.«
Und weg war sie.
Ich aß nicht zu Mittag. Keine Zeit. Die Packerei war doch ein bisschen komplizierter, als ich Lynne gegenüber behauptet hatte. Normalerweise bin ich Weltmeisterin darin, genau die richtige Menge Kleidung mitzunehmen, aber zurzeit fühlte ich mich ein wenig überfordert und schien für alles etwas länger zu brauchen.
Hinzu kam, dass ständig das Telefon klingelte. Ich führte ein ziemlich langes Gespräch mit Clives Anwalt und hatte dabei das Gefühl, dass wir einander vorsichtig umkreisten.
Mir war nicht ganz klar, ob wir uns überhaupt auf derselben Seite befanden, und gegen Ende der Unterhaltung fragte ich mich ernsthaft, ob es nicht besser wäre, mir einen eigenen
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