Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Christian Delius
Vom Netzwerk:
ebenso beschäftigt, zurückgesunken in die Sonntagsgesichter über Sonntagshemden und Sonntagsblusen, gefangen in einer halblauten Sonntagsvorsicht. Ich saß gerade oder achtete darauf, gerade zu sitzen, um die Ermahnung zu vermeiden, die bei krummer Rückenhaltung folgte. Ich hörte im Konzert der Stille das Kratzen und Klingen des Bestecks auf Porzellan, und obwohl am Esstisch längere Reden und Lachen erlaubt und erwünscht waren, wenn sie nicht auf Kosten anderer gingen, kam kein lebhaftes Gespräch auf, weil nicht sprechen sollte, wer kaute, weil nicht sprechen sollte, wer einen andern sprechen hörte, und weil die Ereignisse des Vormittags nicht viel hergaben. Die Konfirmanden hatten eine Liednummer falsch angezeigt, keine Beschwerden über den Mann hinter der Orgel am Blasebalg, über das Läuten, über das Motorrad, nichts Neues aus der Schule, kein Streit, kein Zorn, keine aufregenden Nachrichten aus dem Dorf. Der Bruder wiederholte die Scherzfrage aus dem
Für Euch!
-Heft, «Auf welche Frage kann man nicht mit Ja antworten?», wir beide freuten uns, dass niemand die Antwort wusste. Es blieb die Frage nach dem Programm für den Nachmittag, es sah nach Regen aus, seit Tagen der Regen nach der Hitzewelle im Juni. Die Eltern waren zur Tauffeier nach Rhina geladen, es wurde besprochen, dass nur der Vater fuhr, mich interessierten alle Pläne nicht, ich hatte die Erlaubnis, im Amtszimmer Radio zu hören, das war versprochen und stand fest, mehr wollte ich nicht als mein Endspiel.
    Nach der süßen Belohnung, dem Nachtisch, prachtrote Johannisbeeren gezuckert in der Schüssel, musste der Mund, kaum den Zucker von den Lippen geleckt, wieder geöffnet werden zum Singen. Sonntags reichte das kurze Dankgebet nicht,
Dem Herrn sei Dank für Speis und Trank. Amen.
Also fassten wir uns wieder, diesmal im Sitzen, an den Händen, als sei das Schweißband der Familie noch nicht fest genug, und sangen
Danket, danket dem Herrn, denn er ist sehr freundlich, und seine Güt und Wahrheit währet ewiglich.
Der einfache Gesang genügte nicht, wir teilten uns in zwei Gruppen und schickten den Dank im Kanon zweistimmig aus dem Ess- und Wohnzimmer hinaus durch das Haus, bis hinauf ins Zimmer der Großeltern, als müssten sie beruhigt werden, dass diese sonntäglichen Essgesänge, die sie ihren Kindern eingefleischt hatten, auch in der Familie des Schwiegersohns fortgesetzt wurden, dass Generationen und Traditionen harmonisch zusammenpassten und die Güte des Herrn ewiglich währte, während wir, als wir den Kanon drei Runden durchgehalten hatten, nun in der vierten aus Ton und Takt fielen und im letzten Moment, kurz vor dem Kichern, alle Stimmen zu einem lang anhaltenden, lauten und erleichterten
Amen
vereinigten.

Ich war Isaak, der Sohn, der Vater griff seinen Sohn
und fasste das Messer,
weil sein Gott ihm befohlen hatte,
dass er seinen Sohn schlachtete,
ich sah Isaak mit erschrocken ergebenen Augen auf dem Holzschnitt der Bilderbibel von Schnorr von Carolsfeld, ich war Isaak, gefesselt ängstlich gebeugt gedrückt an den Vater Abraham, vom Vater mit der linken Hand festgehalten, während die rechte mit dem am Schaft sehr breiten, dann spitz zulaufenden Messer schon ausholte, Isaak konnte es nicht fassen: der Vater ersticht ihn, ich konnte es nicht fassen: was für ein Gott, der so etwas befiehlt, was für ein Vater, der ohne Widerworte einem solchen Befehl gehorcht, ich zitterte, ich blutete, sah mich brennen auf dem Altar, auf dem Scheiterhaufen, ich wusste nicht, wie mir geschah, und auch wenn mein Vater keine Ähnlichkeit hatte mit Abraham, keinen Bart, kein langes Haar, keine kompliziert gewickelten Tücher als Gewand, und auch wenn Brandopfer nicht mehr der Brauch waren, er war der Vater, ich der Sohn, über uns beiden Gott, und ich wusste so wenig wie Isaak, welche Gebetsgespräche der Vater mit seinem Herrgott führte, wie eng seine Beziehung zu diesem Wesen war, das alles wusste, alles konnte, alles vorhersah, ich wusste nicht, ob mein Vater direkte Anweisungen und Befehle vom Herrn im Himmel erhielt wie die großen Gestalten des Alten Testaments, ich fürchtete nicht, von meinem Vater wirklich erstochen zu werden, aber es genügte die Vorstellung, das Hören auf die Bibelgeschichte, der Blick auf den Holzschnitt: da ist ein Gott, ein lieber Gott, der einen seiner frömmsten und dienstbarsten Anbeter zwingt, seinen eigenen Sohn zu schlachten, seinen einzigen Sohn, da ist ein Vater, der diesen Befehl ohne Murren und ohne

Weitere Kostenlose Bücher