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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Christian Delius
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Beffchens, aus der Schneidehand leuchtete das Gold des Eherings wie vorher aus der Segenshand, und seine Bewegungen, mit denen sich der Herr über die Worte zum Herrn über das Fleisch machte, waren auch ohne Talar und Gottesbeschwörungen immer noch die eines Mannes, der eine Rolle hatte und souverän ausfüllte.
    Er selbst erhielt am meisten von der Fleischbeute, weil es sein schwerster Arbeitstag war, zwei Gottesdienste, eine Taufe, einige Gespräche, er hatte viele Hände geschüttelt, vielleicht dreißig Leuten in Rhina, siebzig in Wehrda den Unterschied zwischen Gut und Böse verdeutlicht, den Weg ins Himmelreich geebnet und um gutes Wetter für die Ernte gebetet, und allen, die zu ihm kamen, Anschwung für die neue Woche zu geben versucht. Da ich meinen Neid auf die Bevorzugung des Vaters nicht aufkommen ließ, wachte ich umso mehr über den Teller des Bruders, maß eifersüchtig seine Bratenscheibe, immer fürchtend, dass ihm, dem Kleineren, Schwächeren, Empfindlicheren vielleicht mehr
Liebe des Vaters
zugeteilt werden könnte.
    Als alle Teller endlich beladen waren, als Gabel und Messer stichbereit in den Händen lagen, trumpfte die Mutter auf mit dem Satz
Lasst es euch schmecken!
Damit wollte sie nicht das Lob auf ihre Küche vorwegnehmen oder anregen, sondern nur noch einmal den Auftrag
schmecket und sehet
unterstreichen, den wir uns singend gegeben und im appetitanregenden Bratengeruch schon halb vergessen hatten. Ich war gehorsam, ich ließ es mir schmecken. Noch ehe die erste, mit einem Stück Salzkartoffel und Soße beladene Gabel den Mund erreichte, schmeckte ich bereits, was ich schmecken sollte, und ließ es mir schmecken. Die letzten ausgekeimten Kartoffeln des letzten Herbstes schmeckten jetzt, im frühen Sommer, wie sie aussahen, lasch und faltig, aber sie mussten weggegessen werden, ich suchte den guten Geschmack, ich ließ mir die alten Kartoffeln schmecken, ohne meinen Geschmackssinn zu beanspruchen und ohne Konflikte aufkommen zu lassen zwischen dem, was ich schmeckte, und dem, was ich schmecken sollte.
    Oh schmecket und sehet,
schmecken und sehen sollte ich weder die Kartoffeln noch die grünen Bohnen oder den Braten, sondern schmecken sollte ich an den Bohnen,
wie freundlich
der Herr im Himmel war, sollte der Salzkartoffel die
Liebe des Vaters
abschmecken, das gebratene Stück Rind auf dem Tisch, auf den Tellern unter der Soße, auf den Gabeln, wie immer es gewürzt war und wie wenig ich bekam, sollte ich würdigen als sichtbaren Beweis für die Güte Gottes, der
die Seinen,
also mich und die andern am Tisch,
niemals und nirgends vergisst.
Das sollte ich schmecken, und ich schmeckte es, bis ich vor lauter Gottesfleisch und Gottessoße und Gotteskartoffeln nichts mehr schmeckte, sondern nur noch aß und aß, so viel ich nur konnte und dabei das Schmecken vergaß und verlernte. Sollte gleichzeitig
sehen,
was ich schmeckte, und ich sah, was ich aß und wegaß, sah das Essen auf dem Teller und sah es nicht, weil alles, selbst Soße, Salz und Kartoffeln in einen höheren Zusammenhang, in christliche Gewissheiten eingespannt waren. Das Sehen galt nichts,
selig sind, die nicht sehen und doch glauben,
auf das Sehen kam es nicht an. Auf allem, was zu sehen war, lag der Nebel des Glaubens, ich sah nicht, was war, sondern sah, was sein sollte, mein Blick war durch den Gottesblick verzerrt oder getrübt, Wahrnehmungen im Voraus verfälscht von dem, was ich wahrzunehmen hatte, meine Augen waren nicht meine Augen, sondern manipulierte Organe, in die zu viel von der Sichtweise der Eltern einoperiert war. Ich sah nicht, ich glaubte nicht, ich träumte dahin.
    Warum die Erwachsenen sich immer wieder daran trösteten, dass es diesen Allmächtigen gab,
der niemals und nirgends die Seinen vergisst,
konnte ich allmählich verstehen, da sie den Krieg mit Hunger, Flucht, Gefangenschaft erst vor wenigen Jahren überstanden hatten und oft von der vergangenen Not sprachen. Aber sie waren ja nicht die Einzigen, die überlebt hatten, und betrachteten sich trotzdem ohne rot zu werden als
die Seinen.
Mir war das peinlich, wenn ich einen flüchtigen Gedanken dieser Art zuließ, denn woher konnten sie wissen, dass sie zu den Auserwählten, den
Seinen
gehörten, warum konnten sie die Gewissheit,
niemals und nirgends
vergessen zu werden, so laut und schamlos aussprechen?
    Ich fragte nicht, hielt mich fest an den Griffen von Gabel und Messer, schnitt, stach, lud, hob, biss, kaute Kartoffeln, Bohnen, Fleisch, sah die anderen

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