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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Christian Delius
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ich stolz darauf, dass das Endspiel erreicht war,
die Sensation,
und zufrieden, dass Herberger die gleiche Besetzung aufbot,
die Österreich schlug,
hoffte, dass die Spieler
den ungarischen Ballzauberern eine große Leistung abfordern,
und hoffte weiter,
zweifellos kann man in diese Mannschaft einiges Vertrauen setzen.
    Aber es kam schon nicht mehr darauf an, was ich las und welche Meinung ich hatte, viel wichtiger war, dass ich nicht allein war, wenn ich las, dass andere ebenso dachten und hofften wie ich und vor mir das formuliert hatten, was ich nicht formulieren konnte, und dass ich in diesen Sätzen meine Gedanken erkannte, ohne mich bei dieser Art Aneignung anstrengen zu müssen, vielmehr das bebende Glück des Lesenden fühlte: im Text eines anderen so viel Eigenes zu finden, sogar auf der Sportseite.
    In einem Buch einen Jungen oder jungen Mann zu treffen, der mit meinen Wünschen dahergeritten kam und von Seite zu Seite mit stärkerem Willen, größerer Kraft und situationstüchtiger Schlauheit die Abenteuer bestand und als Gewinner aufstieg, war vielleicht packender, aber die Zeitung lieferte nebenher genügend Geschichten, in denen ich eine kleine Rolle mitspielen konnte. Nicht alle Tage waren sie so dramatisch wie ein Jahr zuvor, als ich, mit Masern im Bett liegend, entdeckte, was ein Panzer war, ein stählernes riesiges Ungeheuer mit Kanone und erbarmungslosen Ketten, das auf mich losfuhr und mich, der nicht einmal einen Stein in der Hand hielt, beinah zermalmte. So lebendig und laut waren die Bilder aus der Zeitung geworden, dass mir, obwohl ich noch keine Schüsse gehört hatte, die Schüsse von Berlin in den Ohren lagen im verschwitzten Krankenbett in Wehrda, und ich war geflohen, wie die andern auf den Fotos geflohen waren Unter den Linden, ich war kein Held gewesen, aber dabeigewesen und hatte überlebt, ich spürte meine Wut auf Ulbricht und die Russen und die Panzer und liebte die Zeitung, die mir solche Abenteuer, solche Gefühle verschaffte.
    Ich blätterte weiter bis zur
Seite für die Jugend,
da stand etwas von den
Acht goldenen Baderegeln,
von
Jules Vernes Reise zum Mond,
vom
Fliegenden Holländer,
eine Bildgeschichte
Ein Mann erobert ein Weltreich,
Cortez in Mexiko, ich las achtlos darüber hin, die Spannung auf das Spiel, von der Zeitung gesteigert, war schon so stark, dass ich mich auf nichts anderes konzentrieren mochte. Die Spannung auf etwas, was noch nicht geschehen war, was in knapp drei Stunden beginnen und in fünf Stunden schon wieder vorbei sein sollte, war das Spannendste überhaupt,
Es scheint alles noch ein wenig unwirklich, aber es ist so: die deutsche Nationalelf steht …
ein Ereignis im Spielplan mit Tag und Uhrzeit und doch nichts als eine Phantasie: ein Spiel, das völlig ohne mein Zutun weit weg in der Schweiz ablaufen sollte und doch ohne meine Beteiligung nicht möglich war.

Der Tisch ist gedecket
und alles bereit
sang ich, die rechte Hand in der Vaterhand, die linke an der Bruderhand,
oh seht, was die Liebe des Vaters uns beut,
singend hörte ich unsern Gesang,
oh schmecket und sehet, wie freundlich er ist.
Wir standen hinter den Stühlen um den Tisch herum, schauten uns aufmunternd an, fassten einander locker die Hände und schweißten uns zum Chor zusammen, um das Tischgebet am Sonntag zur Feier des Bratens und des Gottes zu singen,
der niemals und nirgends die Seinen vergisst.
    Der Tisch ist gedecket,
das konnte ich sehen, ein frisches weißes gestärktes Tuch, Bügelfalten markierten die Mitte und rechten Winkel, Teller glänzten weiß, Messer lagen auf Messerbänkchen, Servietten in silbernen Serviettenringen, in der Mitte die Suppenschüssel,
und alles bereit.
Das war eindeutig, aber in den anderen Wörtern störte mich etwas, die Wörter steckten voller kleiner Widerhaken, und ich sang kräftig dagegen an,
oh seht, was die Liebe des Vaters.
Ich sah auf den Tisch und wusste, damit war der Vater im Himmel gemeint und nicht der Vater neben mir, aber doch wieder der Vater neben mir, der mit seiner Arbeit die Liebe des Vaters im Himmel verkündete, ihn vertrat und damit das Geld verdiente, mit dem die Speisen im Edeka-Laden gekauft wurden.
    Ich schielte nach oben zum Vater neben mir, der wie ich, wie alle von der
Liebe des Vaters
sang, suchte in seinem Gesicht auf der Scheitelseite eine Regung und versuchte herauszufinden, wie er die drei Worte singend hinter sich brachte. Unerschrocken sang er drauflos, sein achtes oder zehntes Lied an diesem Vormittag, und

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