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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Christian Delius
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schien die Peinlichkeit nicht zu bemerken, die in der zweideutigen Anrede Vater lag, in der Einladung zur Verwechslung, in der Beschämung durch den Vater da oben. Er sang mit weit geöffnetem Mund, der Adamsapfel tanzte im Halsgehäuse, und die Gerade des Brillenbügels vom Ohr zur Wimper zeigte, dass alles im Lot, alles geordnet war. Die Hand, die meine hielt, zuckte nicht, wenn von der
Liebe des Vaters
gesungen wurde, und gab kein Zeichen, das ich wie ein Augenzwinkern hätte deuten können. Auch ich zuckte nicht, drückte nicht die Hand, die erst eine Stunde vorher aus dem Talarärmel heraus auf Gott gewiesen und als Zauberhand das Kreuz in die Luft gemalt, die Brücke bis zur
Ewigkeit
geschlagen hatte, ich wagte nicht, diese Hand, das Gotteswerkzeug, heftiger zu berühren als mir zukam, ließ von der größeren meine Hand halten, widerwillig gewärmt. Bei festerem Druck hätte ich den Siegelring fühlen können mit dem Wappen der Familie, der verzierten Rose, die für den Namen stehen sollte, den ich, den wir alle vom Vater geerbt hatten, aber ich scheute auch die Berührung mit der dunklen Vorvergangenheit der Vorväter und ihrer undeutlichen
Liebe,
deren Produkt ich war, befangen in allem, stolpernd über die Wörter und über die Silbe
beut.
    Obwohl mir erklärt war, dass dies ein altes Wort für
bietet
sein sollte, dachte ich immer nur an Beute und zugleich an die Albernheit dieses Gedankens angesichts der weißen leeren Teller, der Sonntagssuppe und der zu erwartenden zwei dünnen Bratenscheiben. Gleichzeitig störte etwas Lächerliches, Abgelegtes, Großväterliches in dem Wort, das im Leben und in den Büchern nicht vorkam, nur einmal in der Woche als schlechter Reim gebraucht wurde. Das Wörtchen wirkte so ungewöhnlich albern, dass es mitten im Singen mich oder meinen Bruder zum Grinsen bringen und das Chorsingen in ein Kampfspiel verwandeln konnte. Es war nicht einfach, das lange, gesungene Sonntagsgebet ohne unkontrollierte Regung durchzuhalten, eine ganz andere sportliche Herausforderung als die kurzen Spruchgebete an Werktagen:
Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast,
bei denen wir die Hände falteten und die Augen schlossen. Mitten im Sonntagsritual aber, singend mit beweglichen Händen und Augen, wurde die Silbe
beut
die entscheidende Klippe oder der Vorwand, wenn mein Bruder oder ich darauf aus waren, mit Schielen oder Grimassen uns oder die Schwestern zum Kichern anzustiften, zum verbotenen Kichern beim Beten, erleichtert durch die gekünstelte Haltung und die verordnete Fröhlichkeit. Blicke wurden ausgeteilt und waren auszuhalten, ein Spiel, andere zum Kichern zu bringen ohne selbst zu kichern, nach außen gefasst zu bleiben und Ansätze des Grinsens im Singen, im geöffneten Mund und hinter den zugelassenen Blickwinkeln zu verbergen, aber ich wahrte die Fassung.
    Nach dem Chorgesang wechselten wir zum Sprechchor und stießen die Silben
Ge-seg-ne-te Mahl-zeit!
wie einen Schlachtruf aus, lauter als in diesem Haus üblich, und endlich konnten wir uns setzen und mit der Blumenkohlsuppe beginnen.
Oh schmecket und sehet,
ich schmeckte mehr als die Suppe die tückischen Zeilen des Liedes auf der Zunge und musste noch warten, um zu sehen,
wie freundlich er ist,
der Braten.
    Mein Bruder und ich trugen, weil das Hausmädchen freihatte, die Schüsseln mit Kartoffeln, Bohnen, Soße aus der Küche heran, und als die Mutter das Bratenstück vor dem Vater abgesetzt hatte, hielt er zwei oder drei Sekunden inne wie zu einer kurzen Andacht vor dem erlegten Stück Tier, ehe er das Messer wetzte und den Braten schnitt. Mit dicklichen Fingern führte er das Messer und teilte das Fleisch, so wie er die passenden Worte für den Sonntag austeilte, ich sah, wie er die Stücke auf den Vorlageteller legte,
wie freundlich
er war, während ich mir Kartoffeln und Bohnen nahm. Ich sah das Fleisch und hörte in meinem Kopf den Satz
das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns,
ich wurde diesen schweinischen Bibelsatz nicht los, sah das fleischgewordene Wort im Braten und ekelte mich trotzdem nicht. Ich war gierig auf das Fleisch, nicht auf die Worte, allein mit Worten hatte mein Vater dies Stück Fleisch erarbeitet, ich sah zu, wie er, erleichtert wie nach einer gewonnenen Schlacht, das Messer führte und
was die Liebe des Vaters uns beut
verteilte. Er trug das gleiche Hemd wie vorher in der Kirche, jetzt war die silbergraue Krawatte zu sehen, unter dem Hals die Serviette statt des weißen

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