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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Christian Delius
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mein Spiel, aber ich spielte mit der Spannung zwischen der zerrenden Erwartung auf den Anpfiff und der zaghaften Abwehr gegen den unverschämtesten Wunsch, den Sieg.
    Ich musste die Spannung irgendwohin tragen, ich lief hinaus, an der Kirche vorbei um die Ecke Richtung Kaufmann Wenzel, der Erdal-Frosch über der Ladentür mit dem Edeka-Schild zwinkerte mir zu, ich lief an fünf Häusern und vier Misthaufen vorbei die Straße nach Langenschwarz und Schletzenrod, dann den Feldweg an der Raiffeisenkasse entlang, zwischen Kornfeldern hinauf Richtung Wald. Ich wollte nicht weit, ich hatte keine Uhr, wollte nicht weiter als dahin, wo man auf das Dorf hinunterblicken konnte wie von einem Hochsitz.
    Noch knapp zwei Stunden bis zur Radioübertragung, ich musste mich bewegen, die Zeit vertreiben, die Spannung steigern oder zerstreuen. Keins der üblichen Spiele reizte jetzt, kein Buch, und gerade an einem Tag, an dem es um eine erwachsene Sache wie die Weltmeisterschaft ging, konnte ich mich nicht vom
Kinderfunk im Hessenlande
über die Zeit trösten lassen, schon gar nicht von der Märchentante und vom Chor der Radiokinder
Heißa und da sind wir immer froh, wir und unsre Tante Jo.
    Wie jeden Sonntag, jeden Mittag, wenn Abwasch und Abräumen erledigt waren, hatte die Mutter an das Ruhegebot erinnert, heute mit dem Zusatz «und nachher das Radio bitte ganz leise!». Im Haus hätte ich jetzt still sitzen müssen, leise im Zimmer hocken, denn in den Stunden zwischen zwei und vier zählte nur der Mittagsschlaf der kleinen Schwestern, Großeltern und Eltern. Sie zogen sich in die Betten zurück und wollten weder von Besuchern noch vom Telefon und erst recht nicht von Kindern gestört werden. Kein Geräusch durfte zu hören sein, kein Schrei, kein Streit, keine Tür, keine knarrenden Dielen und Treppenstufen. Lange genug hatte ich kämpfen müssen, als Elfjähriger nicht mehr zum Mittagsschlaf gezwungen zu werden, aber umso mehr musste ich mich dem Gebot fügen, die anderen auf keinen Fall zu stören. Vor der verordneten Stille lief ich fort, hinaus an die Luft, unter die Lerchen unter den Wolken, hinaus in den Sommer, den Hutzberg hinauf, wo der Wald, der auf dem Höhenkranz die Wehrdaer Senke wie ein Hufeisen umschloss, in einer schmalen Zunge von Buchen, Kiefern, Eichen sich bergab neigte und dem Dorf ein Stück entgegenkam.
    Die Sonntagspflichten waren erfüllt, Sonntagsgefahren überstanden, trotzdem suchte ich Abstand von Gebeten und Altären, von Messern und Opfern und von der erzwungenen Ruhe. Das Getreide stand hoch, ich war etwa so groß wie die gelbbraunen Roggenhalme und nur wenig größer als der Weizen, die Eltern hätten mich aus ihrem Schlafzimmer erkennen können an der Jacke und am weißen Hemdkragen, ich lief fort von ihren Blicken, fort von der Schroffheit des mittäglichen Rückzugs, fort von der kränkenden Stille, die wie das lautlose Echo aller Gebote war, die Summe aller Stummheiten. Ich wusste nicht, ob sie wirklich schliefen am hellen Mittag und warum sie so böse wurden, wenn trotz aller Vorsicht eine Tür zufiel, ein Laut aus dem Kinderzimmer drang oder ein Besucher sich nicht abweisen ließ. Nur einmal, als meine Großmutter sich beschwerte über einen Mann, der meinen Vater dringend sprechen wollte, hatte er seine Schwiegermutter angefahren:
Ich bin für meine Gemeinde da!
Das änderte nichts an der üblichen Begründung, sie müssten, auch meinetwegen, um sechs aufstehen und kämen erst gegen elf ins Bett, brauchten folglich den Mittagsschlaf als Ausgleich, das war nur eine Begründung und schob das jeden Tag wieder aufgefrischte Bild nicht weg von den Eltern, die sich unter Drohungen in ihre Kissen verkriechen. Die älteren Jungen grinsten, sobald vom Mittagsschlaf der Pfarrersleute die Rede war, und wenn ich die Eltern verteidigte mit der übernommenen Begründung, dann wurde es nur schlimmer, dann grinsten sie noch mehr, dann hieß es, dass einer, der nicht mehr schufte als die Bauern, schon gar nicht körperlich, wohl andere Gründe haben müsse.
    Sind die Ungarn zu stoppen?
Ich konnte die Ungarn nicht stoppen und lief, nicht gehetzt, sondern immer freier den Feldweg entlang, ich wusste, ich kehre bald wieder, bald sitze ich vor dem Radio, und es gibt nur noch das Spiel. Schon ließ die Anstrengung nach, die häuslichen Vorschriften entweder befolgen oder umgehen zu müssen. Mein Laufen war keine Flucht, nur die in Bewegung übertragene Sehnsucht, die angestaute Gottgefälligkeit abzuwerfen und in

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