Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
haben ausgeglichen gegen Ungarn, die großartigste Technikerelf, die man kennt!
Die Stimme bebte, ich bebte mit, ich schrie nicht auf, durfte während der Mittagsruhe den Torschrei nicht mit meiner Stimme verstärken, denn der Ofen war durch einen Schacht mit dem Kachelofen im Zimmer der Großeltern verbunden und übertrug jedes auffällige Geräusch direkt nach oben.
Und wieder stürmt Deutschland …
die leise laute Stimme hob mich, peitschte mich zu einer Regung auf, die mich gleichzeitig in einen stimmlosen Stillstand versetzte, ich fühlte den Sturm der Gefühle, den das zweite Tor in mir ausgelöst hatte, aber ich hatte kein Ventil dafür, durfte keins haben, also staute ich alles auf, sammelte, speicherte und hielt still …
Kinder, ist das eine Aufregung!
Ich hatte noch nie eine Fußballreportage gehört, immer öfter fielen Wörter, die nichts mit Fußball zu tun hatten …
Wunder! … Gott sei Dank! … So haben wir alle gehofft, gebetet!
… und ich staunte, dass der Reporter das Wort
glauben
mit mehr Inbrunst als ein Pfarrer oder Religionslehrer aussprechen konnte. Beinah wieder ein Tor für Ungarn, beinah ein Tor für Deutschland, und wieder hielt Toni Turek einen
unmöglichen
Ball, wieder Gefahr, der Ball im Tor, nein, …
Turek, du bist ein Teufelskerl! Turek, du bist ein Fußballgott!
Ich erschrak über diese Sätze und freute mich gleichzeitig, dass Turek gehalten hatte, aber der Schrecken saß tiefer, und im Abklingen des Echos dieser Rufe begann ich auf die schüchternste Weise zu ahnen, was für Schreie das waren: eine neue Form der Anbetung, ein lästerlicher, unerhörter Gottesdienst, eine heidnische Messe, in der einer gleichzeitig als Teufel und Gott angerufen wurde. Auch wenn es nicht wörtlich gemeint war, Phrasen des Jubels nur, ich drehte die Lautstärke noch ein wenig herunter, weil es mir peinlich gewesen wäre, wenn jemand mich beim Hören von Wörtern wie
Fußballgott
abgehört hätte. Ich sträubte mich gegen diese Lästerung und bot alle meine angelernten Argumente dagegen auf:
Du sollst keine anderen Götter haben neben mir, Du sollst den Namen des Herrn nicht unnützlich führen,
und doch gefiel mir, noch immer gebannt vom Nachklang der drei Silben
Fußballgott,
dass dieser Gott sehr menschlich war, dass da Götter, statt blutend am Kreuz zu hängen, für mich im Tor standen oder Tore schossen, sich abrackerten im strömenden Regen und kämpften wie
Liebrich, Liebrich, immer wieder Liebrich,
und langsam ahnte ich, weshalb meine Eltern für den Fußball und für meine schüchterne Neigung zu diesem Sport nichts übrighatten und hier vielleicht die Konkurrenz anderer, lebendigerer Götter fürchteten.
Die Spannung des Spiels lockerte meine widerspenstigen Schuldgefühle, gegen das erste Gebot zu verstoßen durch bloßes Zuhören, ich fand von Minute zu Minute mehr Gefallen daran, einen heimlichen Gott, einen
Fußballgott
neben dem Herrgott zu haben. Der Mann der Gebote hing direkt hinter mir an der Wand, ich sah mich um, auf einem postkartengroßen, goldgerahmten Bild hielt ein braundunkler, bärtiger Moses die Feder und nahm das Diktat der Zehn Gebote entgegen, aber er blickte zur Seite, zum Herrn, schrieb mit der Gänsefeder und kümmerte sich um die Gotteslästerung des Reporters und meinen Anflug der Zustimmung nicht.
Ich war allein, aber umstellt von Bildern und Gegenständen, die das Zimmer zum Amts- und Gotteszimmer machten, wo Predigten geschrieben, Andachten gehalten, Anweisungen an Brautpaare und Taufpaten gegeben wurden, wo die Bücher dunkel hinter Glas aufgereiht auf ihre staubige Auferstehung warteten, wo die Strenge zweier Kreuze die Wände markierte und die dreifache Rose als Familienwappen ein Schmuck war, hier musste man sich jeden Vormittag um elf zu einem kurzen Gebet versammeln, hier wertete mein Vater die Wunder Jesu aus dem Heiligen Land für die Bauern von Wehrda, Rhina, Schletzenrod und Wetzlos aus, hier wälzte er das Wort Gottes um und schöpfte Erkenntnisse, Zitate, Stichworte, hier wollte er nicht gestört sein und spielte die bekannten Kirchenlieder auf dem Klavier, hier teilte er Prügel und Geschenke aus: wenn die Zehn Gebote irgendwo galten, dann hier. Die Rufe des Reporters
Ein Wunder! … gebetet! … Fußballgott!
klangen in meinen Ohren nach und rüttelten an allem, was ich in diesem Zimmer sah, aber die Kreuze waren nicht von der Wand gerutscht, der Ermunterungsspruch in halbverständlichem Latein für den Seelsorger VENI SANCTE
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