Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Christian Delius
Vom Netzwerk:
dem manchmal Silben wie
Jud
mit einem verächtlich lang gesprochenen U und Worte wie
Führer
mit einem flötenden Ü oder
Nazi
mit trotzig betontem A auftauchten und gleich wieder hämisch und eilig zurückgestoßen wurden in den Schlund, eine Märchenwelt böser Vokale und Figuren, eine verbotene, gefährliche Mischung, an die man nicht rühren durfte, aber alle Märchen endeten einmal,
und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
    Das stimmte nicht, so vieles stimmte nicht, die toten Männer auf dem Buffet lebten weiter, obwohl sie gestorben waren. Sie machten Vorwürfe, sie verdarben den Appetit. Amputierte humpelten um Schlaglöcher herum als lebendige Anklage gegen die Gesunden. Flüchtlinge wohnten gedrängt und dankbar in kleinen Häusern oder unter Dächern, niemand fragte, wer vor ihnen da gewohnt hatte, ich hörte wieder und wieder den Vorwurf, zu Unrecht vertrieben worden zu sein. Der Krieg war eine Niederlage gewesen und hatte einen eingeschläferten Hass hinterlassen, der Krieg war an etwas schuld, womit alle zu tun hatten und nichts mehr zu tun haben wollten wie mit der Autobahnbrücke tief im Wald hinter mir, über die nie ein Auto gefahren war, weil man nur eine Schneise geschlagen und die Brücke gesetzt hatte, die nun in Pfützen und Schlamm zum Denkmal wurde für eine vertane, vergangene Zukunft.
    Deutsche Elf will den Himmel stürmen,
ich wollte dabei sein und keine Minute versäumen.
Sind die Ungarn zu stoppen?
Das war die entscheidende Frage. Ich lief zurück, in lockerem Schritt bergab, locker wie die Spieler zur Mitte des Sportplatzes, ehe der Schiedsrichter anpfiff.

Hier sind alle Sender
der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlins, angeschlossen Radio Saarbrücken. Wir übertragen aus dem Wankdorf-Stadion in Bern das Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft zwischen Deutschland und Ungarn. Reporter ist …
von fern kam die Stimme, fremd und deutlich jede Silbe laut gesprochen, ich durfte nur leise hören, das war die Bedingung, ich rückte den Stuhl näher an das Gerät, neigte mich der fernen Stimme entgegen, der Sprecher wechselte …
Deutschland im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft, das ist eine Riesensensation, das ist ein echtes Fußballwunder, ein Wunder, das allerdings auf natürliche Weise zustande kam.
    Ich vertraute mich der fremden Stimme an, die geschmeidig und erregt die Begeisterung von Silbe zu Silbe trug und sich schnell steigerte zu Wortmelodien wie
Riesensensation
und
Fußballwunder.
Ich war sofort gefangen von diesem Ton: da sagte ein Erwachsener in wenigen Worten endlich alles, was ich fühlte und nicht fassen konnte, ich sog die Stimme ein, ließ mich von ihr führen, heben und abwärtsschaukeln. Das Spiel hatte bereits begonnen, im Hintergrund Zuschauerrufe, ich stellte die Sendernadel genauer ein, Frankfurt zwischen seltsamen Orten wie Hilversum, Monte Ceneri, Sottens und Beromünster, und als die Namen
Fritz Walter
und
Rahn
fielen und ein erster gewaltiger Schuss, den der Reporter mit einem wuchtigen Stimmstoß nachahmte, zuckte mir der rechte Fuß: das Wunder war da, es gab eine direkte Verbindung zum Spielfeld in Bern. Dort regnete es heftig, ich stellte mich auf den Regen ein, wie schnell rutscht man auf nassem Rasen, und lief hinter dem Ball her, den ich nicht sah, auf dem Drehstuhl, dem Amtsstuhl vor dem mächtigen Schreibtisch des Vaters, zum Radio gedreht, als könnte ich im Radio etwas sehen, als könnte mein Blick auf den braungelben, vor den Lautsprecher gespannten Stoff oder auf das magische grüne Auge den Verlauf des Spiels beeinflussen und den Ball vor die richtigen Füße lenken.
    Ohne eine Sekunde darüber nachdenken zu müssen, lief ich und schoss ich mit auf der Seite der Deutschen, der
Außenseiter,
weil ich mir mitten in Deutschland nichts anderes vorstellen konnte, als gegen die Ungarn zu sein, den
großen Favoriten, den ungekrönten Weltmeister, der seit viereinhalb Jahren in einunddreißig Länderspielen nicht bezwungen wurde.
Außerdem waren die Ungarn mehr oder weniger Kommunisten, gehörten zu den mir seit einem Jahr, seit Juni 1953 verhassten Feinden, und vielleicht spielte auch eine stille Ablehnung großer Favoriten und unbesiegbarer Mächte mit. Ich hatte keinen Funken Sympathie für die
ungekrönte
Fußball-Weltmacht, die mit dem 8 : 3 im Vorrundenspiel schon vorgeführt hatte, wie sie
uns,
die Unterlegenen, die Kleinen, die
Außenseiter,
fertigmachen konnte.
    Unsere tapferen Jungens …
hatten es geschafft,

Weitere Kostenlose Bücher