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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Christian Delius
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gegen diese Macht anzutreten, sie herauszufordern, ihr standzuhalten, und ich versuchte, mit meinen Wünschen
unseren tapferen Jungens
zu helfen. Der Reporter nahm meine heimlichen Gedanken ernst, zog mich mit aufs Spielfeld oder in die erste Reihe der Zuschauer, das war egal, ich war mittendrin, denn bei jedem
uns
oder
unser
oder
wir
war auch ich angesprochen und gehörte schon nach wenigen Minuten mitten in die Gemeinde der Fußballanhänger. Ich rechnete es mir hoch an, dass
wir
so weit gekommen waren bis jetzt, ich fühlte mich stark und immer stärker, vielleicht waren die Ungarn ja doch zu stoppen und die Niederlage zu vermeiden. Aber es drohte Gefahr in jeder Sekunde …
schlechtes Abspiel, Nachschuss, Tor!
1 : 0 für die Ungarn, …
was wir befürchtet haben, ist eingetreten … der Blitzschlag der Ungarn.
Ich fasste es nicht sofort, völlig überrascht, und das Schlimmste an der Enttäuschung über das Tor war, dass ich mich ertappt fühlte, weil ich dazu beigetragen hatte: mein Hochgefühl am Radio in Wehrda hatte auf dem Spielfeld in Bern den Gegenschlag ausgelöst. Das Tor fällt immer dann, wenn man überheblich und leichtfertig wird, dann passt man nicht auf, dann passiert es, so viel verstand ich vom Fußball.
    Der Reporter versuchte zu trösten …
vergessen wir nicht, Deutschland hat noch nie einen ähnlichen Erfolg errungen …
aber mich tröstete er nicht, das war der Anfang der Niederlage, …
die Angriffsmaschine der Ungarn rollt …
und der Schrecken über das Tor war noch nicht geschluckt …
Tschibor wie ein Wirbelwind …
und schoss das zweite, nur zwei Minuten später. Es war alles verloren, meine zitternde Aufmerksamkeit, meine Verneigung vor dem Radio, mein Zucken im Fuß nützten nichts. Auch die anfeuernde Stimme des Reporters half nicht mehr, eben hatte er noch gesagt,
es ist ein großer Tag, es ist ein stolzer Tag, seien wir nicht so vermessen, dass wir glauben, er müsste erfolgreich ausgehen …,
jetzt wurde er ruhiger, nüchtern im Ton und stimmte mich auf die Katastrophe ein. Nach acht Minuten zwei Tore, damit war alles entschieden. Es nützte nichts, an das gute Regenwetter zu glauben, das auf unserer Seite sein sollte,
das Fritz-Walter-Wetter,
wir waren wieder Verlierer, wieder gehörte ich zu den Verlierern, der Reporter hatte recht, es war
vermessen
gewesen, Gedanken an einen Sieg zuzulassen, und noch schlimmer war: auch der schüchterne Mut zu dieser Hoffnung war bestraft, ich hatte mich schon zu weit gewagt mit dem vorsichtigen Wahn von Größe und Sieg, ich schämte mich, drehte den Körper weg vom Radio, suchte den Schutz der Gleichgültigkeit und redete mir ein: egal, es ist doch ganz egal, wie das Spiel ausgeht.
    Und Tor! Tor für Deutschland! Tor!
 … ein Spagatschritt von Morlock schoss alles wieder weg, was ich gerade gedacht hatte, das Tor stieß die Hoffnung wieder an, nicht völlig unterzugehen …
Gott sei Dank, es steht nicht mehr zwei zu null.
Ich konzentrierte mich, starrte auf das grüne Auge, als sei es der Ball, und schob ihn meinen Spielern zu, die Spieler kämpften auf dem Feld, kämpften auf rutschigem Boden, vor dem deutschen Tor Gefahr, Sekunden später Gefahr vor dem ungarischen Tor …
der Außenseiter stürmt …
in jeder Minute ein Angriff auf der einen wie der anderen Seite, die Reporterstimme wogte hin, wogte her zwischen
Möglichkeit!
und
Möglichkeit!,
sodass die Weite des Spielfelds und das Mittelfeld durch das Spieltempo wie verkleinert schienen und ich die weißen Pfosten der beiden Tore sehr nah beieinander sah. Schwarzweiß war mein Bild von dem fernen Spiel, nicht nur weil die Deutschen in schwarzen Hosen und weißen Hemden auftraten, sondern weil die Ungarn für mich keine bestimmten Farben hatten oder ich ihnen keine deutliche Farbe gönnte. Ich sah nur kräftige, rohe Gestalten mit bedrohlichen Namen wie
Puschkasch, Hidegkuti, Tschibor,
sah den Rasen grau, den Regenhimmel grau, die Zuschauer grau, sah die Spielzüge im Tempo der Namen, die der Reporter mal wie ein Stürmer, mal wie ein Verteidiger zu mir herüberflankte, ich wurde Teil der Bewegung zwischen Hell und Dunkel, zwischen Abseits und Aus, war am Ball, war der Ball, hierhin und dorthin getreten, hier auf der Torlinie die letzte Rettung, dort auf der Torlinie, aber …
der ruhige, eiserne Toni
hält. Einmal Atem holen …
Ecke für Deutschland, und … Tor! Tor! Eckball von Fritz Walter, Tor von Rahn! Aus null zu zwei zwei zu zwei! Ja ist es zu glauben, wir

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