Der Spezialist: Thriller
Bewegungen mit Daumen und Mittelfinger.
»Wir machen jetzt eine kurze Pause. Du bleibst im Brunnen.« Aus einer Tasche zog er eine schwarze Seidenbinde und legte sie Matthew über die Augen. »Noch eins: Ich habe gelernt, dass von dem Punkt an, an dem man bestimmte Arten von Schmerz erlebt hat, die Erwartung weiterer Schmerzen fast so stark wirkt wie ihr tatsächliches Empfinden. Ich glaube, mit der Zeit wirst du mir zustimmen.«
Geiger verschwand außer Sicht, und das Licht erlosch wieder. Ein paar Sekunden verstrichen; dann öffnete sich die Tür des Beobachtungsraumes, und Geiger kam herein. Ohne dem Klienten einen Blick zu gönnen, ging er zur Bar, schenkte sich ein Glas Wasser ein und trank.
»Ich mache mir Gedanken«, sagte der Klient. »Habe ich den Richtigen?«
Geiger nickte.
»Sind Sie sicher?«
Geiger nickte wieder.
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe es Matthew gerade erklärt.« Er setzte das leere Glas ab. »Sie haben doch zugehört, oder?«
»Sicher. Toscanini. Nur … warum hat er noch nicht gestanden?«
»Er ist noch nicht am Auslösepunkt. Aber es dauert nicht mehr lange.«
»Auslösepunkt?«
Geiger nickte erneut. »Noch immer hat Matthew mehr Angst vor dem, was geschehen kann, falls er gesteht, als vor dem, was geschehen wird, wenn er es nicht tut. Im Augenblick zieht er die Realität der Folter der Möglichkeit seines Todes vor. Aber das wird sich ändern.«
Der Klient fragte sich, wie Geiger wohl aussah, wenn er lächelte, falls er es überhaupt je tat.
»Wir müssen nur wissen, wem er die Daten verkauft hat«, sagte der Klient. »Wir möchten nicht, dass er getötet wird.«
Geiger blickte ihn mit seinen starren Augen an, die niemals blinzelten. »Aber Matthew weiß das nicht.«
Er ging hinaus. Der Klient seufzte und blickte wieder durch den Spiegel in den schwarzen Abgrund. Auf den zitternden Schwingen von Engeln übertrugen die Lautsprecher ihm Geigers sanfte Stimme.
»Matthew, bist du im Brunnen? Du darfst mir antworten.«
Matthews Stimme klang wie Sandpapier auf rauem Holz.
»Ja, bin ich.«
»Gut.«
In diesem Augenblick begann Matthew zu schreien, so laut, dass es verzerrt aus den Lautsprechern drang. Die Engel stoben in sämtliche Richtungen davon. Der Klient wandte sich ab und griff nach den Ohrenstöpseln.
ERSTER TEIL
1
Um vier Uhr morgens stand Geiger auf der kleinen Veranda hinter seinem Haus und beobachtete eine Spinne beim Weben ihres Netzes.
Es regnete. Der Himmel, aschgrau und bewölkt, ballte sich über der Skyline zusammen wie eine alte Flickendecke. Ein Regentropfen klammerte sich an einen Faden des neuen Netzes, das sich über einen Meter zwischen Verandadach und Geländer erstreckte. Der Wind zupfte daran wie an einer Gitarrensaite, und der Regentropfen zitterte, hielt sich aber. Dann kam die Spinne herunter und spannte mit schaukelndem Unterleib einen neuen Faden.
Geiger hatte seine Notizen zum heutigen Auftrag getippt, der »Sitzung« – wie eine Folterung nüchtern-geschäftsmäßig genannt wurde – mit Matthew Gant. Sergeant Pepper’s dröhnte aus den mannshohen Hyperion-Boxen mit ihrer unglaublichen Basswiedergabe, die selbst das Klicken von McCartneys Plektrum an den Gitarrensaiten hörbar machte. Der Kater lag wie üblich auf dem Schreibtisch, rechts von der Tastatur. Er hob eine Vorderpfote und tupfte Geiger damit auf die Hand, sobald mehr als eine Minute verging, ohne dass er gekrault wurde. Sein fast dröhnendes Schnurren war am lautesten, wenn Geiger an der Narbe über der leeren linken Augenhöhle des Tieres entlangstrich. Geiger wusste nicht, wie der Kater sein Auge verloren hatte; vor drei Jahren war er in diesem Zustand auf der Veranda aufgetaucht. Geiger kannte weder den Namen des Tieres, noch wusste er, woher es kam. In dieser Hinsicht glichen sie einander sehr.
Geiger verfasste stets in der ersten Nacht nach einer Sitzung seine Niederschrift; dann waren ihm Aktionen und Reaktionen noch frisch im Gedächtnis. Er hatte feststellen müssen, dass schon wenige Stunden Schlaf die Erinnerung unscharf werden ließen. Am nächsten Tag schickte ihm Harry, sein Partner, eine E-Mail mit einem Protokoll, das er anhand der DVD-Aufnahme der Sitzung angefertigt hatte, und Geiger ging es durch und fügte an relevanten Stellen Bemerkungen ein.
Er arbeitete in einem ergonomischen, eigens für ihn angefertigten Schreibtischsessel; trotzdem musste er alle fünfzehn Minuten aufstehen und umhergehen, oder sein linkes Bein schlief ihm bis
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