Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
Vom Netzwerk:
Gemütsbewegung anzusehen. Er saß aufrecht und reglos, alles an ihm schien aus weißem Stein. Im ganzen erweckte er den Eindruck einer übergroßen Friedhofsplastik. Nur seine weltraumdunklen Augen verfolgten mit ruhiger Sammlung alles, was vorging.
    Der Saal, in dem die Verhandlung stattfand, war sehr groß. Nach hinten stiegen die Sitzreihen im Halbrund geschwungen an und verschwammen droben in Ungewissem Dämmerlicht. Ein vielstimmiges leises Murmeln, Husten, Flüstern erfüllte die Luft. Die Reihen waren dicht besetzt, und die Gesichter der Menge, zahllose weiße Flecken, schwankten beständig hin und her wie ein Schilfmeer im Wind.
    Anstelle des Richtertisches war an der Stirnseite des Saales ein rohes Balkengerüst von etwa vier Metern Höhe errichtet worden. Eine Treppe aus zusammengenagelten Brettern führte zu einer geländerlosen Plattform hinauf, auf welcher nur ein kleiner Tisch, dahinter ein Stuhl stand.
    Rechts und links von diesem Gerüst, aber ein wenig nach vorn versetzt, erhoben sich zwei schmale, ebenfalls ohne Sorgfalt zusammengezimmerte Türme aus Brettern und Balken, die jeweils in Rednerkanzeln gipfelten. Zwischen diesen Türmen verlief gleichsam als Verbindungsstück eine lange, niedrige Holzbank.
    Alles war für die Verhandlung bereit, aber noch ließ der Beginn auf sich warten. Das Publikum schien sich indessen nicht weiter zu beunruhigen, ja, es konnte fast scheinen, als interessiere es sich kaum für das, was dort vorne geschehen sollte. Jeder war viel zu sehr ins geraunte Gespräch mit seinem Nachbarn vertieft. Nur der Engel hielt den übergroßen Blick mit der unverbrüchlichen Aufmerksamkeit seiner Artgenossen auf den noch leeren Schauplatz geheftet, als sähe er jetzt schon, was kommen würde.
    Endlich öffnete sich eine kleine Tür in der Stirnwand links neben dem Balkengerüst, und herein marschierten einer hinter dem anderen zehn, zwölf Männer und Frauen in apfelgrünen Kitteln mit kurzen Ärmeln, Käppchen von der gleichen Farbe auf den Köpfen. Manche hatten weiße Binden vor Mund und Nase, alle trugen Gummihandschuhe. Sie stellten sich in einer Reihe vor die Bank zwischen den beiden Holztürmen, dann, als sie vollzählig waren, setzten sie sich gleichzeitig nieder. Einige unter ihnen flüsterten den Nebensitzenden etwas zu, diese gaben die Botschaft weiter, und schließlich wandten alle ihre Blicke auf den Engel. Der starrte sie reglos wie aus weiter Ferne an, und einer nach dem anderen senkten sie die Gesichter.
    Plötzlich schrillte ohrenbetäubend eine elektrische Klingel, was jedoch von der Menge der Zuschauer kaum zur Kenntnis genommen wurde. Das allgemeine Gemurmel, Geflüster und Gehuste ging unvermindert weiter. Dann wurde die Tür nochmals aufgerissen, und herein stürmten zwei Personen in wehenden, schwarzen Talaren. Eine davon war eine Frau mit kurzgeschnittenen graumelierten Haaren und einem leichten Schnurrbartanflug, die andere ein untersetzter, rotgesichtiger Mann mit spiegelnder Glatze. Blitzschnell, als ginge es auf einmal um jede Sekunde, kletterten sie die beiden Türme zur Linken und Rechten empor und bezogen Stellung in den Rednerkanzeln, wo sie wild in allerlei Papieren zu blättern begannen. Dazwischen warfen sie sich hin und wieder kampfbereite Blicke zu. Einmal spähte die Frau in die Menge der Zuschauer, bis sie den Engel entdeckte. Sie nickte ihm verheißungsvoll zu, hob beide Hände, legte die Daumen ein und drückte sie. Der Engel gab kein Zeichen des Erkennens oder Verstehens. Der Glatzkopf bemerkte die Geste seiner Kollegin und suchte seinerseits im Publikum die Person, der sie gegolten hatte. Als er den Engel sah, zog er unwillig die Brauen zusammen, schüttelte den Kopf und wühlte dann wieder in seinen Akten.
    Noch einmal schrillte die entsetzliche Klingel. Die kleine Tür öffnete sich, und herein schob sich eine monströse Gestalt, langsam und mit kleinen ruckartigen Schrittchen. Sie war derartig ausstaffiert, daß sie nur seitwärts, und auch das nicht ohne Umstände, durch die Öffnung kommen konnte. Sie trug eine Art von zinnoberrotem Kimono, der allenthalben mit gestärkten Draperien versehen war. Die Füße blieben unsichtbar, da das Gewand nicht nur bis zum Boden reichte, sondern noch meterlang nachschleifte. Die ungewöhnliche Größe der Gestalt, wie auch die unsichere Art des Ganges, ließen darauf schließen, daß sie auf hohen Kothurnen stand. Haupt und Gesicht waren von einem bienenkorbartigen rotlackierten Weidengeflecht

Weitere Kostenlose Bücher