Der Spiegel im Spiegel
war, stieg die Dame aus und blickte dem Zug nach, bis er in der Ferne verschwunden war. Es begann, ein wenig zu regnen.
«Kehren wir um!» rief sie dem Kutscher zu, während sie wieder einstieg, «wir fahren zurück. Ich habe mich anders entschieden.»
«Gott sei Dank!» sagte der Einbeinige, «ich dachte schon, Sie wollten wirklich mit denen gehen.»
«Nein», antwortete die Dame gedankenverloren, «ich würde ihnen nicht von Nutzen sein. Aber du und ich, wir können bezeugen, daß es sie gibt und daß wir sie gesehen haben.»
Der Kutscher ließ die Pferde wenden.
«Darf ich etwas fragen, Madame?»
«Was willst du?»
«Glauben Madame daran, daß die dieses Wort irgendwann finden?»
. «Wenn sie es finden», antwortete die Dame, «dann müßte die Welt sich von einer Stunde zur anderen verwandeln. Glaubst du nicht? Wer weiß, vielleicht werden wir irgendwann Zeuge auch dessen werden. Und jetzt fahr los!»
DER ZEUGE GIBT AN, ER HABE SICH AUF EINER NÄCHTLICHEN WIESE BEFUNDEN,
einer Waldlichtung wahrscheinlich, denn sie sei von hohen Bäumen umstanden gewesen, doch habe er das wegen der herrschenden Dunkelheit nicht mit Gewißheit ausmachen können.
Rings um das Feld seien in großem Kreis Menschen in langen hemdartigen, weißen Kleidern gestanden. Einige unter diesen Leuten hätten Fackeln, die übrigen Sensen, Hacken und Äxte in den Händen gehalten.
Nach einer langen, erwartungsvollen Stille habe schließlich eine laute Stimme den Befehl erteilt: «Die, welche Lichter tragen, tötet!» Darauf seien die Bewaffneten schweigend über die Fackelträger hergefallen, die weder Anstalten gemacht hätten zu fliehen, noch sich zu wehren, sondern ebenfalls schweigend stehen geblieben seien.
Ein grausames Gemetzel habe begonnen, doch sei nichts zu hören gewesen als nah und fern immer von neuem das schreckliche dumpfe Geräusch, das die Beile und Hacken beim Eindringen in die Leiber der Wehrlosen verursacht hätten.
Eine nach der anderen seien die Fackeln im Blut ihrer Träger erloschen, und Finsternis habe sich ausgebreitet.
Bald darauf habe sich ein heftiger Wind erhoben, der die schwarze Wolkendecke vor dem fahl aufdämmernden Himmel zerfetzte. Das große Feld sei von Leibern bedeckt gewesen. Dieselbe laute Stimme, die den Befehl zur Tötung der Fackelträger gegeben, habe nunmehr die Mörder aufgefordert, ihre Kleider in das Blut der Getöteten zu tauchen.
Auch an ihn, den Zeugen, sei diese Aufforderung ergangen, doch gibt er vor, sich nicht mehr erinnern zu können, ob er ihr nachgekommen sei oder nicht.
Immerhin entsinnt er sich noch, schließlich ganz allein (vielleicht als Letzter?) unter all den Erschlagenen gestanden zu haben. Dabei will er gespürt haben, wie sein Kleid von unten her aufsteigend naß und rot und immer schwerer geworden sei von Blut.
Dann habe er im Sausen des Windes, gleichsam als ob es sich dabei um Windstöße gehandelt habe, eine andere, qualvoll gepreßte Stimme vernommen, die stöhnend etwas wie «Weh! Weh!» gerufen habe, doch sei er fast sicher, daß es nicht diese Worte gewesen seien, sondern eher «Seht! Seht!»
Darauf habe er zum Himmel aufgeblickt und in der Dunkelheit ein Seil ausmachen können, welches quer über das ganze Feld gespannt gewesen sei und an welchem eine menschliche Gestalt in gekreuzigter Haltung gehangen habe.
Wie der Zeuge hinzufügt, könne er jedoch nicht mit Sicherheit sagen, ob diese Gestalt nur an das durchgehende Seil festgebunden gewesen sei oder ob es sich um zwei getrennte Seilstücke gehandelt habe, jeweils am linken und rechten Handgelenk der Gestalt festgeknotet, und so die Gestalt selbst als Verbindungsstück ausgespannt gewesen sei. Das festzustellen sei es, wie der Zeuge versichert, zu dunkel gewesen.
DER MARMORBLEICHE ENGEL SASS UNTER DEN ZUHÖRERN IM GERICHTSSAAL
als Zeuge der Verhandlung. Er hatte in der ersten Reihe rechts unter dem großen Fenster Platz genommen. Seine enormen Schwingen ragten nach hinten über die Lehne seines Sitzes und beanspruchten noch die beiden Plätze in seinem Rücken. Da er gut zwei Köpfe größer war als die übrigen Zuhörer, behinderte er viele in der Sicht, doch keiner beschwerte sich darüber. Niemand schien ihn zu bemerken. Im Gegenteil, ein sehr dickes Weib mit erdbraunem Gesicht lehnte sich immer wieder schnarchend gegen ihn, als sei er eine Säule. Obgleich seine beengte Position ihm zweifellos Pein verursachen mußte, war seinem vollkommen statuenhaften, strengen Gesicht keine
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