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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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Das Wesen des Menschen liegt in seinem Schicksal! Es ist einmalig und hängt deshalb von einmaligen Bedingungen ab! Deshalb ist es ebenso verbrecherisch, eine Verkörperung zu vereiteln, wie eine schon bestehende zu vernichten. Es ist Mord, Herr Kollege! Mein Mandant hat seine Verkörperung seit Jahrhunderten vorbereitet. Er hat seine Urgroßeltern zusammengeführt und seine Großeltern und nun seine unmittelbaren Erzeuger. Eine unvorstellbare Leistung an Genauigkeit in allen Einzelheiten war dazu notwendig! Wenn sein Urgroßvater sich nicht an jenem bestimmten Tag einen Zahn hätte ziehen lassen, so wäre er der entsprechenden weiblichen Person nicht begegnet, die nur auf der Durchreise bei jenem Dorfbader einkehrte, um sich ein Pflaster für ihre wundgelaufene Ferse zu besorgen. Wären sie sich nicht begegnet, so hätten sie nicht geheiratet und Kinder gezeugt, Kinder, unter denen wiederum ein Mädchen war, das die Großmutter des jetzigen Antragstellers wurde - oder werden soll. Tausende, Millionen solcher Einzelheiten wären hier aufzuzählen. Und Sie wollen dieses Wunderwerk an Kausalität vernichten? Sie wollen dem Antragsteller im letzten Augenblick die Tür vor der Nase zuschlagen? Sie wollen ihn zwingen, diese ganze mühevolle Arbeit wieder von vorn zu beginnen? Mit welchem Recht? Und selbst wenn er die Arbeit von neuem beginnt, ihr Ergebnis kann und wird nie wieder das sein können, was es jetzt ist. Mein Mandant wird der Welt vielleicht etwas zu geben haben, was er nur jetzt und nur unter den gegebenen Bedingungen kann. Denken Sie an die großen Heiligen, die Genies, die Heroen unserer Geschichte! Was wäre aus der Welt geworden, wenn man auch nur einem einzigen von ihnen das Recht zur Verkörperung verweigert hätte? Wie wollen Sie das verantworten?»
    «Und wer sagt Ihnen, verehrte Frau Kollegin», schrie der Glatzkopf rot im Gesicht zurück, «daß nicht gerade Ihr Mandant einer der größten Verbrecher aller Zeiten, ein Fluch für die Menschheit werden wird? Wäre es da nicht besser, ihm das Recht auf Verkörperung zu verweigern? Was Sie da vorbringen, sind doch alles haltlose Hypothesen! Wann und unter welchen Bedingungen eine Person sich verkörpert, ist so zufällig wie die Lage der Karten in einem Spiel. Sie sprechen von Verantwortung! Sie sprechen von Menschenwürde! Als ob uns nicht viel mehr als Ihnen darum zu tun wäre! Gerade das, was Sie vortragen. verehrte Frau Kollegin, führt uns in letzter Konsequenz zur vollkommenen Verantwortungslosigkeit. weil es uns jede vernünftige Entscheidung unmöglich macht. Wo alles auf geheimnisvolle Art sinnvoll ist, sogar der gezogene Zahn eines Urgroßvaters, da ist eben nichts mehr sinnvoll, da ist auf fatale Art alles gleichgültig! Sie wissen und wir alle wissen, daß es schon längst viel zu viele Menschen auf unserer Welt gibt. Es wäre wahrhaftig verantwortungslos, jeden Antrag auf Verkörperung wahllos zuzulassen. Damit würden wir das Gegenteil von dem erreichen, was Sie, Frau Kollegin, so eindrucksvoll postuliert haben: den Schutz der menschlichen Würde! Wir haben die Verantwortung, weil wir die Mittel einzugreifen haben. Dieser Verantwortung können wir uns nicht mit ein paar frommen, aber wohlfeilen Argumenten entziehen! Und ihr Mandant, verehrte Kollegin, ist nun einmal nach unserer Verkörperungsregelung überzählig! Persönlich bedauere ich die Härte, die uns die Notwendigkeit in solchen einzelnen Fällen aufzwingt, aber ich bin von ihrer Vernünftigkeit überzeugt. Der Antrag muß zurückgewiesen werden.»
    An dieser Stelle wurde den beiden Rednern das Wort durch neuerliches Schrillen der elektrischen Klingel abgeschnitten. Sie verstummten und wühlten beide mit grimmigen Gesichtern in ihren Dokumenten, wobei sie besorgte Blicke zu den Leuten in den apfelgrünen Kitteln hinunterwarfen. Diese berieten unhörbar, nickten, gestikulierten und schüttelten die Köpfe. Schließlich hatten sie einen unter sich ausgewählt, einen jungen Mann, der sich nun langsam erhob und mit gesenktem Kopf und hängenden Armen dastand wie ein Verurteilter. Er nahm die Binde von Mund und Nase, und man sah, daß er bleich geworden war. Mit müden Schritten ging er zu der kleinen Tür und verschwand.
    Das massige Weib neben dem Engel war für kurze Zeit aufgewacht und hatte den Vorgang verfolgt. Jetzt seufzte es begeistert:
    «Ah - ein Gottesurteil!»
    Dann sank es mit interessiertem Gesicht wieder in Schlaf.
    Der Engel, der sich die ganze Zeit nicht geregt hatte,

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