Der Spiegel im Spiegel
verhüllt. Sichtbar waren nur die Hände, die klein und weiß und mit gespreizten Fingern aus den Stoffmassen hervorragten und lange, spitze Nägel hatten.
Mit drohender Würde wankte die Gestalt vorwärts und drehte sich suchend um sich selbst. Offenbar konnte sie nichts sehen. Einige der Personen in apfelgrünen Kitteln sprangen auf, eilten hinzu und geleiteten die Gestalt ehrerbietig zu dem mittleren Gerüst. Auch die anderen hatten sich erhoben, und sogar die schnurrbärtige Frau und der Glatzkopf in ihren Rednerkanzeln beobachteten mit Respekt, wie die Gestalt nun unendlich langsam die improvisierte Treppe zur Plattform hinaufklomm. Dort angelangt, ließ sie sich gravitätisch auf den Stuhl hinter dem kleinen Tisch nieder, hob das Korbgeflecht von ihren Schultern und stellte es neben sich auf den Boden. Das Gesicht, das zum Vorschein kam, war kalkweiß, der Kopf von einer ungeheuren" grauen Mähne umgeben. Gerade wegen der gewaltigen Aufmachung wirkte das Gesicht merkwürdig klein und puppenhaft. Es starrte ausdruckslos vor sich hin.
Die Leute in den grünen Kitteln setzten sich wieder. Die Frau im schwarzen Talar machte eine kleine Verbeugung gegen die Gestalt auf der Plattform und begann zu sprechen. Ihre Stimme war tief und ein wenig heiser und deshalb im allgemeinen Gemurmel des Auditoriums nur schwer zu hören.
«Es handelt sich um den Antrag dreiundsiebzig Strich achthundertneun römisch fünf Ypsilon einundneunzig. Die bis jetzt noch namenlose Person bittet um die Genehmigung, sich verkörpern zu dürfen. Wie aus den beigefügten Unterlagen hervorgeht, gibt es keinen Grund, ihr diese Genehmigung zu verweigern. Ich ersuche also das hohe Gericht um einen positiven Entscheid.»
«Ich halte Ihnen vor», rief der Glatzköpfige in der anderen Kanzel mit einer überraschend hohen, schneidenden Stimme und schwenkte dabei ein Schriftstück hin und her, «daß die namenlose Person nach diesen offiziellen Sachverständigengutachten bereits ohne jede Genehmigung ihre Verkörperung eingeleitet hat. Schon allein damit verstößt sie gegen den Paragraphen siebenhundertzwölf Absatz drei der Zulassungsregelung. Solche vollendeten Tatsachen werden geschaffen, um das Gericht zu beeinflussen und die übrigen Beteiligten zu erpressen. Das hohe Gericht wird sich davon nicht beeindrucken lassen und den ungerechtfertigten Antrag zurückweisen.»
«Es ist allerdings richtig», erwiderte die Frau, «und übrigens von unserer Seite auch niemals bestritten worden, daß die ersten Schritte der Verkörperung bereits eingeleitet wurden. Wie wir aber in unserer Begründung ausführlich dargelegt haben, ging der Antragsteller dabei von der Voraussetzung aus, daß das hohe Gericht die absolute Notwendigkeit der Einhaltung eines bestimmten Zeitpunktes der Verkörperung erkennen wolle.
Es ist ja ganz klar, daß gewisse Bedingungen nur zu einem gewissen Zeitpunkt vorhanden sind. Ein Vorwegnehmen oder Verzögern der Verkörperung würde zu völlig anderen Bedingungen führen und damit den ganzen Sinn der Verkörperung vereiteln oder zumindest aufs Höchste gefährden. Das aber würde eine völlig ungerechtfertigte Benachteiligung des Antragstellers bedeuten, die dem Anspruch auf Gleichheit nicht gerecht wird. Das hohe Gericht kann sich schließlich nicht selbst eines Vergehens schuldig machen, das es an anderen zu ahnden verpflichtet ist. Wir bleiben also bei unserem Antrag und erwarten einen positiven Entscheid.»
«Unsinn!» fiel ihr der Glatzköpfige ins Wort. «Ein Zeitpunkt ist so gut wie ein anderer! Andernfalls wäre ja eine Bevorzugung oder Benachteiligung aller Antragsteller sozusagen naturgegeben. Die Bedingungen, von denen die verehrte Kollegin da redet, sind zwar zweifellos vorhanden, aber in ihrem positiven oder negativen Wert für den Sich-Verkörpernden niemals vorweg erkennbar. Mit anderen Worten: Ob der Augenblick einer Verkörperung für eine Person günstig oder ungünstig ist, kann sich immer erst nachträglich zeigen - oft sogar erst nach dem Ende der Verkörperung. Wir wollen doch hier keinem falschen Mystizismus huldigen! Wo kämen wir hin, wenn wir die Verkörperung sozusagen kosmisch programmieren wollten! Das ist einfach lächerlich!»
«Lächerlich», rief die Frau, die sich nun auch langsam erhitzte, «ist Ihre mechanistische und materialistische Denkweise, Herr Kollege! Lächerlich und - schlimmer noch - zynisch! Denn Ihr Zufallsprinzip widerspricht der menschlichen Würde! Der Mensch ist kein Kaninchen!
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