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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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hob den Kopf und blickte zur Fensternische, unter der er saß, hinauf, denn er fühlte, daß etwas auf ihn heruntertropfte. In der Tat stand dort ein großes gläsernes Gefäß, das er vorher nicht bemerkt hatte. Es war voll Tinte. Vielleicht hatte das überlaute Schrillen der Klingel das Glas zerspringen lassen, jedenfalls sickerte nun der Inhalt durch einen Sprung heraus und tropfte auf die Flügel und das Gewand des Engels. Doch der regte sich auch jetzt nicht, sondern ließ es geschehen, daß die schwarzblaue Flüssigkeit ihn besudelte und in langen Streifen an ihm herunterlief. Sein dunkler Blick war wieder starr auf die kleine Tür gerichtet.
    Diese öffnete sich nach kurzem, und eine junge Frau kam herein. Sie hatte ein langes weißes Hemd an und trug in den Händen vorsichtig eine porzellanene Waschschüssel, die mit einem ebenfalls weißen Tuch zugedeckt war.
    Vor dem mittleren Balkengerüst angekommen, drehte sie den Zuschauern den Rücken zu, straffte sich in den Schultern, blickte zu dem Rotgewandeten hinauf und zog dann mit einem entschlossenen Ruck das Tuch von der Schüssel. Diese war fast bis zum Rand mit warmem, noch dampfendem Blut gefüllt, in dem, nur halb erkennbar, irgendwelche Organe schwammen.
    Im selben Augenblick fuhr der Rotgekleidete von seinem Stuhl auf, sein Puppengesicht verzerrte sich zu einer schreckenerregenden Grimasse der Gier oder der Wut, er stieß den kleinen Tisch beiseite, so daß dieser polternd und krachend die Stufen hinunterschlug, dann fuhr er selbst mit unbegreiflicher Schnelligkeit herab und blieb unmittelbar vor der jungen Frau stehen, die ihn gelähmt vor Entsetzen anstarrte. Der Rotgewandete machte einige tanzartige, greifende Bewegungen in der Luft, während sein Gesicht sich nun völlig entstellte und nichts menschenähnliches mehr hatte. Dann brach er plötzlich los, fuhr mit den Händen in die Schüssel, als suche er etwas Bestimmtes, fischte ein Organ heraus, das vielleicht ein winziges Herz war und stopfte es sich gierig in den Mund und schlang es hinunter. Er wühlte von neuem in der Schüssel, dabei bespritzte er die Trägerin mit Blut. Kaum war das geschehen, warf er, was er in den Händen hielt, fort und zeigte stieren Blickes, keuchend und gurgelnd, mit seinen bluttriefenden Fingern auf die roten Flecken auf dem Hemd der jungen Frau. Er ballte seine Rechte zur Faust, schlug zu und traf sie mit solcher fürchterlichen Wucht gegen die Schläfe, daß sie ohne einen Laut tot zu Boden stürzte. Die Porzellanschüssel zerschellte.
    Der Engel war bei diesem entsetzlichen Schauspiel in die Höhe gefahren und stand nun in seiner ganzen Größe da. Der Rotgekleidete wandte sich um und blickte mit gebleckten Zähnen nach ihm hin. Als er die schwarzblauen Flecken auf der marmorweißen Gestalt sah, näherte er sich ihr, zeigte mit seinen besudelten Fingern auf die Flecken, ballte von neuem die Faust und holte zum Schlag aus. Da öffnete der Engel weit den Mund und stieß ein Brüllen aus, das wie das Bersten einer großen Bronzeglocke klang. Einen Augenblick lang schien die Welt bei diesem Schrei stille zu stehen.
    Der Rotgekleidete löste sich aus seiner Erstarrung, machte ein paar taumelnde Schritte, und während sein Gesicht wieder den puppenhaften Ausdruck annahm, ja geradezu bekümmert wirkte, beugte er sich nieder und begann, an den dunklen Flecken herumzureiben, wobei seine Lippen sich zitternd bewegten und beinahe unverständlich stammelten:
    «Verzeih mir bitte... ich war nur ein wenig verwirrt... es tut mir leid...»
    Der Engel stand noch immer reglos und hatte die Augen geschlossen. Es war, als ginge eine Erschütterung durch seinen Körper, ein lautloses, krampfhaftes Schluchzen.
    Als er die Augen wieder aufschlug, sah er den Rotgewandeten bei der Leiche der jungen Frau am Boden hocken und deren Gesicht zärtlich streicheln. Um die beiden standen jetzt fünf Kinder in einem weiten Kreis, welche Holzschwerter wie zum Salut senkrecht vor ihre Gesichter hielten.
    «Wie schön!» murmelte das massige Weib mit dem erdbraunen Gesicht hinter dem Engel, «die Kinder halten die Totenwache bei den Opfern und den Schuldigen...»
    Und mit befriedigtem Seufzen glitt sie wieder in Schlaf.
    Das übrige Publikum schien die Vorgänge kaum bemerkt zu haben. Es bot nach wie vor den Anblick eines grauen, leicht vom Winde bewegten Schilfmeeres.

MOORDUNKEL IST DAS GESICHT DER MUTTER.
     
    Breithüftig hockt sie auf dem Tisch und kaut. An der Wand lehnt die Standuhr, ein Riese,

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