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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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bin und du in mir. Auch die Wahrheiten halten sich gegenseitig und stehen auf nichts.»
    «Nein!» schreist du, «das ist nicht zu ertragen! Gibt es denn keine Rettung vor dir? Was liegt dir an mir? Warum läßt du mich nicht in Frieden hier bleiben, wo ich bin? Ich will deine Freiheit nicht!»
    «Du wirst frei sein», sagt er, «oder du wirst nicht mehr sein.»
    Danach hörst du etwas, das wie ein Seufzen klingt. Die Mauern beben davon und bewegen sich, und langsam schließt sich der Riß, ganz wie du es dir gewünscht hast. Du könntest zufrieden sein, aber das dauert nicht lang.
    Etwas geht vor um dich her, das du erst nach und nach begreifst. Deine vordem vertraute Welt ist dir nicht mehr vertraut. Sie wendet sich gegen dich. Schatten senken sich aus der Kuppelhalle, graue hungrige Nebelgestalten, kleine und große Gesichter, die da sind und dann wieder nicht da, ein aufgeregtes huschendes Gewimmel von Gliedern und Leibern, die zerfließen und sich immer von neuem formen. Was tun sie? Wer sind sie? Wo kommen sie her? Sie steigen aus den Truhen und Schränken auf, aus der Uhr, aus den Mauern selbst, aus allem, worin du dich sicher und geborgen wähntest. Das alles hat keinen Bestand mehr, es vernichtet sich selbst.
    Und während die Kuppelhalle sich langsam dreht um dich als kleine, zerbrechliche Mitte, mußt du geschehen lassen, was geschieht. Du hast es ja selbst hervorgerufen. Aber noch haben sie Angst vor dir, ihrem Erzeuger, so scheint es wenigstens. Sie drängen sich in die äußersten Ecken und an den Wänden entlang. Sie pressen sich an die steinernen Mauern, sie lecken gleichsam mit ihren ganzen nebligen Körpern die Wände hinauf und hinunter, und die gemalten Sterne verblassen. Wo sie vorüberstreichen, wird das Gefüge undeutlich, nebelhaft wie sie selbst. Sie rauben deiner Welt ihre Wirklichkeit, sie saugen ihr die Substanz aus, sie machen sie zum Gespenst einer Welt. Sie löschen sie aus, weil es sie niemals gab.
    Doch scheinen sie unersättlich, denn langsam kommen sie immer näher zu dir heran. Nur der Tisch mit der dicken Platte und der Landschaft darauf dreht sich und dreht sich noch immer und du mit ihm in der Mitte. Du begreifst, sie werden auch dich auslöschen, weil es dich niemals gab.
    Nun fühlst du Hammerschläge, doch ist kein Laut zu hören. Was tun sie da? Sie treiben ein Rohr quer durch das Plattenrund von einer Seite zur anderen, eine mühsame Arbeit, doch sie ermüden nicht. Und dann, als das Rohr zu beiden Seiten herausragt, beginnt etwas fortzurinnen und rinnt immer weiter, und sie lecken es auf, gierig wie Hunde. Und du fühlst, als sei es dein eigenes Blut, das da ausrinnt, wie das Rund unter dir unwirklicher wird von Herzschlag zu Herzschlag. Jetzt packt dich hilfloses Entsetzen.
    «Blutsbruder!» rufst du mit einer winzigen, dir selbst kaum hörbaren Stimme, «rette mich! Lehre mich fallen!»
    Aber die Mauer öffnet sich nicht, weil sie nicht mehr da ist. Und bald wird es nichts mehr geben als den Abgrund. Du wirst fallen und falle , ohne es gelernt zu haben, und du wirst suchen in dir nach dem, was mit deinem Blutsbruder verwandt ist, wie die Gestirne es sind, die sich gegenseitig auf ihren Bahnen halten, denn nichts sonst wird dich halten, und an nichts anderes wirst du dich halten können. Doch wirst du es können? Da du es nicht gelernt hast, wirst du es können?
    Nun ist alles verschwunden.
    Es ist an der Zeit.
    Jetzt!

DAS INNERE EINES GESICHTS, MIT GESCHLOSSENEN AUGEN, SONST NICHTS.
     
    Dunkelheit. Leere.
    Heimkehren.
    Heimkehren wohin?
    Ich weiß es nicht mehr.
    Wer-ich?
    Ich bin krank vor Heimweh.
    Erinnere dich!
    Dorthin, woher ich einst gekommen bin. Heim.
    Hast du eine Heimat? Bist du ihr Sohn?
    Wer fragt?
    Wer antwortet?
    Jetzt sind die Augen geöffnet, aber dennoch ist da nur Dunkelheit und Leere.
    Dafür also, denkt jemand, habe ich diese endlose Reise gemacht, diese Reise, die mich alles gekostet hat, was ich mir in all den Jahren erworben, erkämpft, erlitten habe. Alles, außer den Lumpen, die ich auf dem Leib trage. Dafür habe ich mich durch Wüsten und über Gebirge geschleppt, durch Frost und Hitze, habe Hunger, Durst und das Fieber der Sümpfe ertragen. Dafür habe ich mich durch Stacheldraht gewunden und bin über Dächer geflohen wie ein entkommener Sträfling. Was habe ich denn erwartet?
    Nach Hause zu kommen. Und nun ist da nur diese Dunkelheit und Leere. Ich hätte es wissen müssen, daß man niemals zurückkehren kann. Ich bin nicht mehr, der ich

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