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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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Ich werde ihr Zeit lassen.»
    Der Begleiter schweigt und blickt uninteressiert zum Horizont.
    Der Bräutigam starrt eine Weile auf seine große Zehe, die aus dem Lackschuh hervorragt, dann fragt er plötzlich mißtrauisch: »Sie ist doch schön und jung, meine Braut? Ich wollte sagen - sie ist es noch immer, nicht wahr? Bitte, sagen Sie ganz offen Ihre Meinung!»
    «Darüber habe ich keine Meinung», erwidert der Mann ohne Gesicht.
    Der Bräutigam reibt sich die Stirn. «Ja, ja, ich weiß. Nur - es ist alles schon so lange her. Ich weiß kaum noch, wie sie aussah. Ehrlich gesagt, ich kenne die Person gar nicht mehr. Irgendein fremdes Mädchen. Wie hieß sie noch? Mein Gott, wir sind schon so lang unterwegs.»
    «Wir sind aus jener Tür gekommen», sagt die kühle Stimme, «und gehen zu dieser dort. Das ist alles.»
    «Ich verstehe es nicht», gesteht der Bräutigam ein, «ich verstehe einfach nicht, daß es so weit ist.»
    «Sie verstehen es nicht», wiederholt der andere und wendet sich zum Gehen, «aber Ihre Braut wartet. Kommen Sie!»
    Der Bräutigam hält ihn nochmals am Ärmel fest. «Woher wissen Sie das überhaupt? Vielleicht wartet sie längst nicht mehr. Oder sie hat nie gewartet. Es könnten doch irgendwelche Umstände eingetreten sein. Dann hätte ich alles ganz umsonst auf mich genommen. Ich würde mich lächerlich machen.»
    «Das», antwortet die trockene Stimme, «erfahren Sie am besten, indem Sie durch diese Tür da vorn gehen.»
    «Diese Tür da vorn», flüstert der Bräutigam, «sie ist unerreichbar, sie bleibt immer vor uns, immer gleich weit... Das ist eine Fatamorgana und keine Tür!»
    «Unsinn!» sagt der andere ohne zu lächeln, «eine Fatamorgana erscheint und verschwindet. Aber diese Tür war von Anfang an da und ist an ihrer Stelle geblieben, ganz unverändert.»
    Der Bräutigam nickt. «Ja, unverändert - seit damals, als ich losgegangen bin - als ich noch jung war.»
    «Es ist also keine Fatamorgana», erwidert der Begleiter in abschließendem Ton und setzt sich in Bewegung.
    Lange Zeit wandern die beiden Männer nebeneinander her, aber nach und nach entsteht wieder der Abstand zwischen ihnen, der sich vergrößert. Wieder ruft der Bräutigam, und wieder bleibt der Mann in der korrekten Kleidung erst nach einer Weile stehen und erwartet ihn, auf den Schirm gestützt. Der Bräutigam löst sich zusehends auf, seine Kleidung hängt ihm nunmehr in Fetzen vom Leib, auch scheint es, als sei er noch kleiner und älter geworden.
    «Damals», stößt er nach Atem ringend hervor und macht mit dem Zylinder, von dem nur noch der Rand übrig ist, eine fahrige Bewegung in die Richtung der nördlichen Tür. «damals war ich noch kräftig, erinnern Sie sich? Damals war ich es, der vorauslief, nicht Sie, wissen Sie noch?»
    «Manchmal», schränkt der andere ein, «sehr selten.»
    Der Bräutigam schüttelt eigensinnig den Kopf. «Nein, nein. Sie konnten mich kaum bändigen. Sie hatten Mühe, mit mir Schritt zu halten. Damals war ich jünger als Sie, mein Lieber. Viel jünger und viel kräftiger. Ich war ein stattlicher junger Mann.»
    «Ich», entgegnet der Begleiter, «bin immer noch gleich alt.»
    Der Bräutigam wischt sich mit der Hand den Sand vom runzligen Gesicht. «Ich erinnere mich», flüstert er, «als wir aus der Tür traten, hockte dort am Boden ein uraltes Weib, winzig, wie von der Sonne eingeschrumpft. Sie hatte nichts auf dem Leib als einige Fetzen von Spinnweben. Vielleicht war es der Rest ihres Brautschleiers. Arme alte Vettel! Ich ekelte mich vor ihren hängenden Brüsten, die dünn und leer waren wie Hautfalten. Aber der Blick, mit dem sie mich ansah! Ich habe oft an ihn denken müssen. Sie hatte eingesunkene, halbblinde Augen. Und sie streckte mir die Hand entgegen, in der sie ein paar dürre Rosenstengel hielt. Der Blick erinnerte mich an etwas -oder an jemand. Jetzt habe ich es vergessen. Ich weiß nur noch, daß ich mich für sie schämte, weil sie so alt und so häßlich war. Ich nahm die rote Nelke aus meinem Knopfloch und warf sie ihr zu. Sie fing sie auf und lachte zahnlos. Ich glaube, sie war glücklich über mein Geschenk. Ja, damals war ich wahrhaftig ein stattlicher junger Mann und stark wie ein Stier. Ich dachte, nur ein paar Schritte und ich bin bei ihr, bei meiner Braut. Ich hatte es eilig. Darum wollte ich auf direktem Weg zu ihr.»
    «Kommen Sie, kommen Sie!» sagt der Begleiter, nun doch fast ein wenig ungeduldig.
    Aber der Bräutigam hat noch etwas zu sagen, obgleich

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