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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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ersten Mal beinahe ungehalten. «Sie stellen sich wirklich an, als ginge es um Ihr Leben.»
    «Das tut es auch», antwortet der Bräutigam und nickt traurig, «es geht um mein Leben, rückwirkend, verstehen Sie? Ich bin ein alter Mann, aber ich habe kein Leben gehabt. Man hat mir alles annulliert. Ich bin um mein Leben betrogen worden, ich weiß nicht, von wem. Und nun will ich keins mehr. Ich will nie eins gehabt haben. Dagegen können Sie nichts tun.»
    «Doch», sagt der andere, «ich werde Sie die letzten paar Schritte tragen.»
    Der Bräutigam kichert. «Die letzten paar Schritte ... das schaffen sie nicht!»
    «Erlauben Sie!» sagt der andere, und ohne eine Antwort abzuwarten, hebt er den Bräutigam hoch und nimmt ihn auf den Arm. Der legt ein mageres Ärmchen um die Schulter des Begleiters und schmiegt das wackelnde Greisenköpfchen an dessen Hals. So legen sie wieder ein langes Stück Wegs zurück. Obwohl der Bräutigam kaum noch etwas wiegt, wird seinem Träger doch schließlich der Arm lahm, und er läßt ihn zu Boden gleiten.
    «Die letzten paar Schritte...» meckert der Bräutigam triumphierend, «sehen Sie, sehen Sie!»
    Der Mann ohne Gesicht antwortet nicht. Er hakt die Krücke seines Schirms in den Kragen des Cutaway, oder vielmehr in den Rest, der davon noch vorhanden ist, und schleift den Bräutigam hinter sich her durch den Sand.
    Wieder vergeht endlose Zeit.
    Der Bräutigam fühlt, daß der andere ihn losgelassen hat, und versucht, sich aus dem Lumpenbündel zu befreien.
    «Wir sind da», hört er die teilnahmslose Stimme sagen, «ich habe Ihnen doch gesagt, es seien nur noch ein paar Schritte.»
    Der Bräutigam bringt sich mit einer letzten Kraftanstrengung in sitzende Haltung und reißt die Augen auf. Das Licht dringt in ihn ein wie kochendes Metall, und er stößt einen Schrei aus, doch nicht einmal er selbst vernimmt ihn.
    Vor seinem erlöschenden Blick schwankt die Tür. Sie ist geöffnet. Der Durchblick ist eine Schattierung dunkler als das dunstige Blau des Himmels, das ihn umgibt. In diesem Ausschnitt steht ein hochgewachsenes, langbeiniges Mädchen, mit nichts bekleidet als einem duftigen Brautschleier, der von ihrem Scheitel herabfließt und ihren Körper einhüllt, durchsichtig wie zarter Nebel. Ihr Gesicht ist fast in diesem Nebel verborgen, um so deutlicher aber sind ihre langen, schmalen Glieder zu sehen, ihre Schenkel, ihre kleinen Brüste, ihr flacher Leib und der Nachtschatten ihres Schoßes. In der Hand trägt sie einen Rosenstrauß.
    «Endlich!» ruft sie, «ich bin fast tot vor Sehnsucht! Wo ist er denn? Wo ist er?»
    Der Begleiter wendet sich dem Bräutigam zu, aber der hebt mit großer Mühe eine Hand und legt ein knochendünnes Fingerchen bittend an seinen eingefallenen, zahnlosen Mund.
    Der Begleiter zuckt unmerklich die Achseln und wendet sich der Braut zu. «Ihr Bräutigam erwartet Sie hinter der nördlichen Tür. Wenn Sie wollen, führe ich Sie auf direktem Wege zu ihm.»
    «Gehen wir!» ruft sie, «gehen wir schnell. Es sind nur ein paar Schritte, dann bin ich bei ihm.»
    Sie will loslaufen, hält aber inne, weil der Bräutigam die Hand nach ihr ausstreckt. Ratlos betrachtet sie ihn einen Augenblick lang, dann wirft sie ihm eine Rose aus dem Strauß in ihrer Hand zu.
    Der Bräutigam hebt seinen Blick zu dem Begleiter, der mit verschränkten Armen zugesehen hat und nun leise sagt: «Immerhin seid ihr euch begegnet. Ihr habt es schon oft getan und werdet es immer wieder tun. Das können nicht alle von sich sagen.»
    Dann folgt er dem Mädchen, das mit langen Sprüngen in die Wüste hineinläuft, auf die andere Tür zu, die riesenhaft am nördlichen Horizont steht. Die beiden Gestalten werden zwischen den Sandhügeln kleiner und kleiner, und nur eine
    gewundene Spur von winzigen Sandtrichtern bleibt zuletzt.
    Der Bräutigam starrt ihnen mit milchweißen Augen nach, während seine Finger die Rosenblüte betasten.
    «Wie schön sie ist!» flüstert er, «mein Gott, wie schön sie ist!»
    Und während er zurücksinkt in den Sand, murmelt er noch: «Ob sie mich finden wird, dort drüben hinter der anderen Tür?»

DIE HOCHZEITSGÄSTE WAREN TANZENDE FLAMMEN,
     
    und sie feierten das glänzendste aller Feste im Schloß aus buntem Wachs. Weithin leuchteten die durchscheinenden vielfarbigen Wände, die Türme, Tore und Fenster über das ganze nächtliche Land hin.
    Da gab es aufgeplusterte goldene Flammen, die sich gravitätisch bewegten, und schlanke Silberzungen, die flink

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