Der Spiegel im Spiegel
einen Augenblick erscheint die spitze Schnauze des Fuchses hinter einem der obersten Türchen nahe dem Giebel und verschwindet wieder.
Die beiden Vermummten auf der Brücke haben sich nicht geregt. Der Niemandssohn sucht mit seinem Blick ihre Gesichter, aber da ist nichts als Dunkelheit zwischen den Tüchern. Die große steingraue Frau strickt und strickt. Das Wasser des Flusses ist immer noch starr.
Was hat da eben geschrien wie im Todeskampf? War es der Fuchs? Ein unterirdisches Stöhnen kommt jetzt aus dem Inneren des Hauses, ein Schrillen dann, das immer mehr anschwillt, ein Fauchen und Sausen wie von Sturmwind, zuletzt ein vielstimmiges Brüllen, das plötzlich abbricht. Stille. Aus der aufgebrochenen Öffnung schießt der Fuchs wie eine rote Flamme hervor, rast auf seinen Herrn zu, überschlägt sich, jagt weiter aufs freie Feld, wo er wie toll geworden umhertobt.
Langsam nehmen die beiden Vermummten ihre Gewehre von den Schultern, laden durch und legen gelassen an. Sie zielen auf den Fuchs.
Nicht! schreit der Niemandssohn, nicht auf ihn!
Und mit ausgebreiteten Armen läuft er in die Schußlinie und vor die Mündungen. Zögernd lassen die Vermummten die Waffen sinken. Er wendet sich um.
Der Fuchs liegt ganz nah hinter ihm, hechelnd mit weit heraushängender Zunge, und blickt ihm mit schrägem Kopf entgegen. Der Blick seiner grünen Augen hat fast etwas Übermütiges. Mit einem Stoß seiner Schnauze dreht er einen kleinen Kadaver um, der zwischen seinen Pfoten liegt.
Der Niemandssohn nimmt die Beute auf und betrachtet sie. Ein schwarzer, nasser struppiger Balg, leer und schon kalt und fast ohne Gewicht, und doch etwas Entsetzliches, nicht weil es jetzt tot ist, sondern weil es einmal gelebt hat, weil es möglich war: Ein winziges, dreieckiges Gesicht, uralt, voller unbegreiflicher Bosheit selbst jetzt noch, verkrümmte Menschenhändchen mit langen spitzigen Klauen. Wenn dies eine Ratte ist, so hat er nie zuvor eine Ratte gesehen.
Er trägt das Ding auf beiden Händen ausgestreckt vor sich und geht auf die Vermummten zu. Fuchs und Wolf folgen ihm. So bleiben sie zu dritt vor der Brücke stehen.
Nach einer langen Stille hängen die beiden Vermummten ihre Gewehre wieder über die Schultern, und abermals nach einer langen Stille drehen sie sich um und gehen mit schweren, unsicheren Schritten davon.
Der Niemandssohn blickt ihnen nach, und nun quillt unversehens alle Hoffnung, die er nicht mehr zu haben glaubte, in ihm empor wie ein heißer Tränenstrom. Er fühlt Wärme aus seinen Knochen steigen, sie strömt in seine Glieder, in seine Brust, in seine Kehle, in seine Augen. Jetzt weiß er, daß seine Heimkehr erst begonnen hat. Die große steingraue Frau drüben am Waldrand hat aufgehört zu stricken. Ihre Hände liegen reglos im Schoß. Ihr bisher schattendunkles Gesicht ist nun erhellt vom Widerschein der Morgendämmerung, der sie es zugewandt hat. Sie blickt in ruhiger Erwartung zum immer leuchtenderen Himmel hinüber. Von dort her löst sich aus dem Licht, sehr fern noch und fast nur zu ahnen, doch schon in allen Kolibrifarben erglänzend, das erste schlagende Schwingenpaar.
DIE BRÜCKE, AN DER WIR SCHON SEIT VIELEN JAHRHUNDERTEN BAUEN,
wird niemals fertig werden. Wie eine ausgestreckte Hand, die niemand ergreift, ragt sie über die steilen Klippen unserer Landesgrenze hinaus, unter denen der schwarze bodenlose Abgrund sich dehnt. Ihr hochgeschwungener Bogen verschwindet irgendwo weit draußen im dichten Nebel, der beständig aus der Tiefe aufsteigt.
Ein solches Bauwerk kann man nicht vollenden, wenn einem nicht von der gegenüberliegenden Seite entgegengebaut wird. Und wir haben niemals bisher ein Anzeichen dafür entdecken können, daß man auch drüben an einem solchen Projekt arbeitet. Es ist wahrscheinlich, daß man dort noch nicht einmal etwas von unseren Anstrengungen bemerkt hat.
Viele von uns bezweifeln sogar, daß es überhaupt eine gegenüberliegende Seite gibt. Diese Leute haben im Lauf der letzten zwei Jahrhunderte eine von der alten orthodoxen Lehre abweichende eigene Kirche gegründet, deren Mitglieder mit dem Namen die Einseitigen bezeichnet werden. Ursprünglich handelte es sich dabei um einen Spottnamen, den die Orthodoxen ihnen gaben, später dann übernahmen sie ihn jedoch selbst und tragen ihn seither mit einem gewissen Stolz. Ihre Überzeugung hindert sie übrigens keineswegs daran, sich auch weiterhin mit allen Kräften am Brückenbau zu beteiligen, wie es unsere Ethik
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