Der Spiegel im Spiegel
es ihm Mühe macht, verständlich zu sprechen. «Meinen Sie nicht auch», krächzt er, «es wäre klüger, wir warten, bis es Abend wird? In der Kühle könnte man den Marsch leichter fortsetzen.»
«Bitte», erwidert der Mann ohne Gesicht, «nehmen Sie sich doch zusammen! Sie bringen ja schon alles durcheinander. Wir befinden uns im Mittagszimmer. Abende gibt es anderswo. Sehen Sie selbst, wir werfen hier so gut wie keinen Schatten. Das Licht steht im Zenit, unverändert und unveränderlich.»
Der Bräutigam nickt traurig, läßt die Arme hängen und sagt: «Ich kann nicht mehr.»
Der Begleiter stochert gleichgültig mit seinem Schirm im Sand. «Das haben Sie schon hundertmal gesagt. Muß ich nochmals an Ihr Verantwortungsgefühl appellieren? Man erwartet Sie. Ihre Braut zählt jede Minute. Sie sehnt sich nach Ihnen, wie nur eine junge Frau sich sehnen kann. Bedeutet Ihnen das denn nichts?»
«Doch, doch!» beeilt sich der Bräutigam zu versichern.
Wieder wandern die beiden schweigend eine lange Wegstrecke, Stunden oder Jahre im gleißenden Licht.
Plötzlich wirft sich der Bräutigam zu Boden, wälzt sich auf den Rücken und schreit aus verkrusteten Lippen zum Himmel hinauf: «Warum? Warum nur? Warum ist der Weg so lang? Ich werde niemals ankommen. Niemals, niemals werde ich meine Braut sehen und umarmen. Warum konnte ich ihr nicht einfach sagen, daß ich sie begehre, daß ich sie haben will, daß mich danach verlangt, ihre Haut zu fühlen, ihren Leib?» Ein Hustenanfall schüttelt ihn, und er kann nicht weitersprechen.
Der Begleiter wartet teilnahmslos ab, bis er vorüber ist, dann sagt er: «Das alles haben Sie getan. Sie haben diese Dinge gesagt, und so stehen sie Wort für Wort in den Dokumenten.» Er klopft mit dem Schirm leicht gegen die Ledermappe.
Der Bräutigam bewegt eine Weile sprachlos die Lippen. «Aber warum», stammelt er schließlich, «warum bin ich dann hier und nicht bei ihr? Warum gehe ich immer nur auf sie zu, ohne sie je zu erreichen? Warum? Warum?»
«Weil Sie es unbedingt so wollten», sagt der andere und blickt zu ihm nieder. «Es ist Ihnen wieder und wieder gesagt worden, daß der direkte Weg der längste ist. Sie haben nicht einmal zugehört. Hören Sie mir wenigstens jetzt zu?»
«Ja», krächzt der Bräutigam. Er starrt den Begleiter lange an, dann beginnt er zu lachen. Es klingt wie ein Gekreisch. Der andere wartet reglos ab. Schließlich schluckt der Bräutigam trocken und flüstert: «Also hat mich ganz einfach die Mathematik betrogen?»
«Nein», sagt der Begleiter, «dort ist es richtig.»
Der Bräutigam läßt den Kopf in den Sand zurücksinken und starrt in die Sonne. Seine Augen schmerzen, als würden sie von glühenden Eisen durchbohrt, aber es kommen ihm keine Tränen. Er hat keine mehr. Er läßt Sand durch seine Finger rinnen und murmelt: «So ist das also. Ich gebe auf. Ich streike. Ich will nicht mehr. Ich streike.»
«Nur Mut!» sagt der Begleiter, aber er sagt es ohne jede Teilnahme. «Dort ist ja schon die Tür. Es sind nur noch ein paar Schritte.»
Der Bräutigam läßt weiter den Sand durch seine Finger rinnen. Der Begleiter zieht ihn hoch und hält ihn mit ausgestreckten Armen vor sich hin, so leicht ist er geworden. Seine Beine baumeln in der Luft wie die einer Puppe.
«Ich sehe nichts mehr», flüstert er, «ich habe keine Augen mehr.»
«Und Ihre Braut?» fragt der andere.
«Ich weiß nichts mehr. Ich verstehe nichts mehr. Ich will nichts mehr. Ich habe keine Braut. Ich habe nie eine gehabt. Ich habe niemals begehrt. Ich habe niemals geliebt. Ich habe niemals existiert. Lassen Sie mich bitte in Ruhe.»
Aber der Begleiter gibt nicht nach. «Sie haben kein Recht, Ihre Existenz aufzugeben. Sie denken nur an sich selbst. Aber Sie haben Verantwortung übernommen. Die können Sie nicht einfach von sich werfen als Mann von Charakter.»
«Charakter...» flüstert der Bräutigam, immer noch mit den Beinen baumelnd, «ich frage mich, warum Sie nicht meine Aufgabe übernehmen. Die junge Dame wird sich freuen. Sie sind noch immer jung - jedenfalls jünger als ich.»
Der Begleiter läßt ihn los. Er fällt in den Sand wie ein Bündel Lumpen. Mit zusammengekniffenen Augen versucht er den Gesichtslosen zu sehen, der groß über ihm steht.
«Unsere Pflichten», hört er die glatte Stimme sagen, «sind nicht die gleichen.»
Der Bräutigam spielt wieder im Sand. «Pflichten ...» flüstert er und kichert ein wenig, «Pflichten...»
Nun wird der andere zum
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