Der Spiegel im Spiegel
ZWEI EINE STRASSE HINUNTER:
Eine große dunkle Gestalt, die eine kleine helle führt. Die große ist ein Dschin in langer schwarzbrauner Kutte. Sein kupfernes, grünspanüberzogenes Gesicht blickt schwermütig unter der Kapuze hervor wie das eines uralten Affen. Seine Hand ist schwarz und schuppig, die klauenartigen Finger sind nach allen Seiten verkrümmt, dennoch halten sie behutsam eine andere Hand, eine kleine, die weich ist und weiß, die Hand eines Kindes, eines zartgliedrigen Knaben in weißem Matrosenanzug mit knielangen Hosen und schwarzen Schnürstiefelchen. Die runde Mütze mit den Bändern sitzt auf dem Hinterkopf und umrahmt das Kindergesicht wie ein Heiligenschein .
Die Straße, auf der sich die beiden ohne Eile fortbewegen, erstreckt sich schnurgerade und immer abfallend bis zum Horizont. Die ganze Fläche der Erde ist schräg gestellt. Die Häuserzeilen zur Linken und zur Rechten zeigen ehemals prächtige, balustraden- und figurengeschmückte Fassaden, die schon seit langem verfallen, von Mauerschwamm zersetzt und von Schimmelflecken überwuchert sind. Geruch von Fäulnis, Kot und Miasma steht in glasiger Luft. In der Stille klingt nur der Widerhall von den Schritten des Kindes. Der Dschin macht kein Geräusch, er gleitet neben dem Knaben her wie eine hohe Säule aus wirbelnden Insekten.
Der Knabe bleibt stehen und sagt: «Kehren wir um! Ich habe keine Lust mehr.»
Der Dschin nickt traurig. «Ja, es ist nicht lustig hier. Aber wir sind nicht zu deinem Vergnügen gekommen. Du mußt jetzt zur Schule gehen - und dies ist deine erste Unterrichtsstunde.»
«Ich mag aber nicht!» ruft das Kind trotzig. «Ich will fort von hier.»
Auf der wulstigen Stirn des Dschin schwillt eine Ader an. «Wir bleiben!» sagt er mit bronzener Stimme. Dann, nach einer Weile, fügt er sanfter hinzu: «Für diesmal wird es nicht lang sein.»
Erstaunt hebt der Knabe seine Augenbrauen, so daß sie wie ein fliegender Vogel aussehen, und mustert das Gesicht seines riesenhaften Begleiters. «Du willst mir nicht gehorchen?» fragt er ungläubig. «Du weißt, wer ich bin. Hast du keine Angst vor mir?»
«Hätte ich Angst, dann hätte ich Hoffnung», murmelt der Dschin, und nun hört man den Sprung im Metall der Stimme. «Nein, ich habe keine Angst vor dir, Kleiner. Vor dem. der du jetzt bist, noch nicht. Und vor dem, der du sein wirst, nicht mehr. Der nämlich wird mir recht geben.»
«Wann wird das sein?» will das Kind wissen. «Wenn ich groß bin?»
Auf dem trostlosen Affengesicht erscheint fast so etwas wie ein Lächeln. «Das ist noch ein Weilchen hin, Kleiner. Noch viele Leben und Tode. Bis du wirklich groß bist.»
Er zieht weiter wie eine Rauchschwade. und der Knabe trottet gedankenverloren neben ihm her. Nach langer Stille fragt die Kinderstimme: «Und du wirst immer böse bleiben, bis dahin?»
Der Dschin verdoppelt sich, seine Konturen zerfließen für einen Augenblick, dann sammelt er seine Gestalt von neuem, steht vor dem Knaben wie ein Stück undurchdringliche Finsternis.
«Böse?» fragt er mit schweren Lippen. «Böse? Was ist das? Vielleicht wirst du es auch mich einmal lehren. Aber erst mußt du es ganz in dich aufnehmen, um es ganz zu verwandeln. Das ist ein schweres und langes Studium, Kleiner, das dir bevorsteht. Das ist kein Kinderspiel.»
«Für dich vielleicht», meint der Knabe munter, «für mich ist es leicht. Es ist nichts, es ist nur ein Fehler, den man verbessern muß. Alles wäre in Ordnung ohne das Böse.»
Der Dschin hebt langsam seine wolkigen Schultern, als müsse er eine gewaltige Last hochstemmen. «Vieles ist notwendig!» summt es zornig aus dem Insektenschwarm. «Wer weiß wie vieles?»
«Also gut», sagt der Knabe einlenkend, «gehen wir weiter!»
«Nein», erwidert der Dschin, «wir sind angelangt.»
Der Knabe blickt neugierig umher. «Warten wir auf jemand?»
«Ja», murmelt der Dschin, «wir warten auf jemand.»
«Sollen wir jemand helfen?» fragt der Knabe eifrig und verbessert sich sogleich: «Soll ich jemand helfen?»
Der Dschin betrachtet ihn unter jahrtausendschweren Augenlidern hervor. «So einfach ist es nicht, wie du denkst.»
«Nein», sagt das Kind ein wenig verlegen, «ich weiß gut, daß es nicht einfach ist zu helfen.»
Der Dschin schüttelt den Kopf, langsam wie ein Baum im Wind. «Du bist es», rauscht seine Stimme, «du bist es, Kleiner, dem geholfen wird.»
Der Knabe errötet heftig. «Ich fühle mich kein bißchen hilfsbedürftig», sagt er rasch
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