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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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sicher auch, daß sie wahr sind.» «Freilich!»
    Der Straßenkehrer nickt wieder. «Ganz recht. Ich sage nicht, daß sie nicht wahr sind. Wenn einer sie richtig zu erzählen versteht, sind sie alle wahr. Aber siehst du, es sind immer nur die Geschichten der Sieger, sie gehen gut aus, so oder so. Aber die Geschichten der Verlierer sind auch wahr, nur werden sie bald vergessen. Vielleicht weil die Verlierer sie selbst vergessen. Daher kommt das.» «Verlierer?» fragt der Knabe und kommt noch ein wenig näher. «Davon habe ich nie gehört! Gibt es sie wirklich?»
    Der Alte streckt die Hand aus, um die Wange des Knaben zu streicheln, aber der weicht mit einer brüsken Bewegung zurück. Der Straßenkehrer lächelt um Entschuldigung bittend.
    «Mir scheint trotz allem», sagt er heiser, «du kennst in Wahrheit nur eine einzige Geschichte, mein Kind, nur die Geschichte des hundertsten Prinzen, der das Rätsel zu lösen vermag, aber nicht die der neunundneunzig vor ihm, die zugrunde gehen, weil es ihnen nicht glückt. Und fast alle ihre Geschichten enden hierin dieser Straße.» Der Alte wendet den Kopf und blickt in die Ferne, dorthin wo die Häuserzeilen in einem Punkt zusammenlaufen. «Ich habe jedenfalls noch keinen gesehen von allen, die hierherkamen, der das andere Ende erreicht hätte, denn die Straße wächst unter ihren Schritten und wird um so länger, je mehr Weg sie schon zurückgelegt haben. Deshalb bleibt jeder schließlich, wo er gerade ist, in diesem Haus oder in dem dort, und richtet sich ein und lebt mit den Trösterinnen -solang er eben noch lebt.» «Du auch?» fragt der Knabe erschrocken. Der Straßenkehrer gibt keine Antwort. Er lacht oder hustet nur kurz, als ob etwas zerrisse, und sagt nach einer Weile: «Aber in Wirklichkeit ist diese Straße sehr kurz. Höchstens ein Leben lang. Ich muß das schließlich wissen.»
    In diesem Augenblick fühlt der Knabe schattenschwer die Klaue des Dschin auf seiner Schulter. Er will sich nach ihm umwenden, aber der Dschin hält seinen Kopf und dreht sein Gesicht in die Richtung, aus der sie beide gekommen sind. Dort zeigt sich, sehr fern noch, eine Gestalt. Wie eine von ungeübten Händen geführte Marionette torkelt sie die Straße herunter, knickt in den Knieen ein, fängt sich wieder und taumelt weiter. Bisweilen stützt sie sich vornübergebeugt mit der Hand gegen die Wand eines Hauses und verharrt so, wie um zu Atem zu kommen. Obgleich ihr Weg abwärts geht, scheint jeder Schritt sie große Anstrengung zu kosten. «Schau, schau!» raunt die heisere Stimme, «wieder einer.»
    Und nun wird es plötzlich lebendig auf der Straße und in den Häusern. Die Türen öffnen sich und da und dort auch eines der Fenster.
    Überall zeigen sich Weiber, die dem Ankömmling nach- oder entgegenstarren. Sie alle gleichen einander so völlig, daß es scheint, als seien sie nur eine einzige Frau, deren Bild in einer endlosen Reihe von Spiegeln auftaucht. Diese eine, die sie alle sind, trägt ein Kleid aus grauem, von Moder zerfressenem Stoff, das ihren sehr mageren Gliedern eng anliegt und schlaffe, winzige Brüste mit tierhaft langen Zitzen frei läßt. Fahlgraues Haar umgibt Kopf und Schultern wie Rauch, und im kalkweißen Gesicht steht der Mund wie eine große schwarze Wunde.
    Die taumelnde Gestalt ist herangekommen, und nun zeigt sich, daß es ein Mann in der unförmigen, silberglänzenden Montur eines Weltraumpiloten ist. Nur den Helm hat er offenbar fortgeworfen oder verloren. Sein farbloses, schütteres Haar steht ihm wirr um den Kopf. Seine wimpernlosen Augen sind gerötet, und sein Gesicht ist von einem idotischen Lächeln wie gedunsen. Ais er die Gruppe der drei Wartenden mitten auf der Straße bemerkt, bleibt er unschlüssig stehen. Er hebt eine Hand, dann fällt er zu Boden und bleibt liegen, das Gesicht nach unten.
    Der Knabe will zu ihm laufen, aber da fühlt er nachtmahrkalt die Klaue des Dschin, die ihn festhält.
    «Jetzt nicht!» rauscht die baumhafte Stimme. «Schweig und gibt acht!»
    Eines der Weiber geht zu dem Gestürzten, dreht ihn auf den Rücken und betrachtet sein vom Straßenkot besudeltes Gesicht, in dem noch immer das wesenlose Lächeln steht. Langsam schiebt sich aus ihrem Mund eine dünne schwarze Zunge, sie leckt sich die Lippen, die wie geronnenes Blut aussehen. Der Mann erblickt über sich das Gesicht, und ohne daß das Grinsen seiner Lippen verschwindet, tritt in seine Augen langsam der Ausdruck des Entsetzens. «Wer bist du?» fragt er.
    Das

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