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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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und blitzt den Riesen stolz an.
    Der Dschin seufzt, als ob flüssiges Magma Blasen werfe. «Da siehst du nun, Kleiner, wie wenig du noch verstehst.»
    «Wer soll mir denn helfen?» will der Knabe wissen. «Und warum?»
    «Alle», antwortet der Dschin, «alle, denen du später helfen wirst. Denn ihnen allen wirst du verdanken, daß du es kannst.» «Dir auch?» «Vielleicht, ja, ich denke, mir auch.»
    Der Knabe macht sich steif. «Dir will ich nicht dankbar sein müssen. Ich will nicht, hörst du?»
    Aus dem Inneren des schwarzen Rauchs kommt ein Lachen, als ob lebendes Holz im Feuer knackt und winselt. «Du willst. Kleiner, du willst! Würde ich dich sonst führen können?»
    Jetzt wird der Knabe ernstlich ungeduldig. «Auf wen warten wir also noch? Willst du mich zum Narren halten? Du bist doch schon hier! Auf wen soll ich noch warten?»
    Der Dschin streicht sich müde mit der Klauenhand über das Kupfergesicht. Es klingt, als ob Glas zertreten wird. «Gib Ruhe, kleiner Herr, gib Ruhe! Ich bin nicht hier. Oder glaubst du, ich könnte dich sonst an der Hand führen, ohne daß dein warmes Herzchen zu Eis erstarrte? Aber nun frage nicht fortwährend. Gib nur acht auf alles, was geschehen wird. Mehr ist für diesmal nicht deine Pflicht.»
    Und der Dschin zieht tief die Kapuze über sein Gesicht und sieht nun aus wie eine von schwarzem Schnee bedeckte Tanne.
    Plötzlich ist ein rauhes, bellendes Heulen zu hören, das langsam und qualvoll erstirbt wie die Stimme eines großen Hundes, der den Tod seines Herrn beklagt. Der Knabe erschauert und blickt suchend umher. Es scheint ihm, sie ist aus einem der Häuser nahebei gekommen, doch kann er eines seltsamen Echos wegen, das hin- und herfliegt, nicht feststellen, aus welchem. Als er sich langsam umwendet, erblickt er hinter sich eine graue, gebückte Gestalt, deren Kommen er nicht bemerkt hat. Erleichtert atmet er auf, denn allem Anschein nach handelt es sich nur um einen alten Straßenkehrer, der darauf seinen Besen gestützt steht und der Unterhaltung der beiden Besucher gelauscht hat. Als der Blick des Knaben dem seinen begegnet, lächelt er, nickt und tippt mit dem Finger an den Rand seiner Mütze.
    «Guten Morgen!» sagt er heiser. Und da der Junge nicht antwortet, sondern ihn prüfend anblickt, fährt er fort: «Nicht wahr, es ist doch ein guter Morgen, da du gekommen bist?»
    Der Knabe erwidert noch immer nichts, sondern blickt sich nach dem Dschin um, doch der steht nur riesenhaft und leise schwankend wie ein Wirbel aus Dunkelheit.
    «Allerdings», läßt sich nun wieder die raschelnde Stimme des kleinen grauen Mannes vernehmen, «war hier immer ein Morgen wie dieser, solang ich auch zurückdenke. Und es ist auch jetzt der gleiche Morgen. Hier gibt es nur eine einzige Stunde, die Stunde vor Tagesanbruch. Niemals Mittag, niemals Abend, niemals Nacht. Diese Tageszeiten sind hier noch nicht erfunden. Es ist die längste von allen Stunden, ein Stück Ewigkeit, daher kommt das.» Er lacht ein wenig, oder vielleicht hustet er auch. Er mustert das ungleiche Paar mit Augen, die schmal sind und tausend-fältig.
    «Das Kind da», fragt er plötzlich barsch den Dschin, «warum hast du's hier hergeschleppt in unsere Hurenstraße?»
    Aber der Dschin steht stumm wie ein Turm aus steinerner Trauer.
    «Was geht's dich an?» ruft der Knabe hochfahrend. «Meinst du vielleicht, ich weiß nicht, was Huren sind? Das weiß ich schon lang!»
    «Ach ja?» Der Straßenkehrer senkt den Kopf und stützt sich schwer auf den Besen. «Dann laß hören, was du weißt?»
    «Frauen», erklärt der Knabe, «die Liebe für Geld verkaufen. Und das ist etwas sehr Schlimmes.»
    Der Straßenkehrer nickt ein wenig. «Schau, schau!» Dann fährt er mit einem kleinen betrübten Lächeln fort: «Aber das wäre vielleicht noch nicht so sehr schlimm, mein Kind. Nur, siehst du, hier gibt es kein Geld - und keine Liebe. Die Trösterinnen in unserer Straße verkaufen etwas anderes und bekommen etwas anderes dafür, das ist es.» Und wieder hustet er oder lacht leise.
    Der Knabe ist verwundert und nähert sich dem Straßenkehrer zwei, drei vorsichtige Schritte.
    «Was denn?»
    Der graue Alte überlegt eine Weile, wie er es dem Kind erklären soll. Schließlich hat er es gefunden und fragt: «Gewiß kennst du eine Menge Märchen, mein Junge?»
    «Ich kenne alle», sagt der Knabe stolz, «alle, die es gibt. Ich habe jemand, der sie mir erzählt und der jedes Märchen der Welt weiß.»
    «Das ist schön. Und du weißt

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