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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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gewinnen. Man nennt das Tanzen. Es zu besitzen, wäre mein Ende.» «Warum kämpfen wir dann noch?» Gleichzeitig gaben beide sich frei und schauten einander an. Es zeigte sich, daß der Seefahrer während des Handgemenges dem Seiltänzer die Balancierstange entrissen hatte, während jenem das Fernrohr aus schwerem Messing in den Händen geblieben war.
    «Leb wohl, Bruder!» sagte der Seiltänzer lachend und begann, den Mast abwärts zu klettern. «He, wie heißt du?» rief der andere ihm nach, doch der Seiltänzer war schon fort. Also machte der alte Seefahrer, die schwere Balancierstange in den Händen, schwankend und noch ohne Geschicklichkeit, sich auf dem waagrechten Weg über die große Rahe davon, wo er bald zwischen den riesenhaften weißen Segeln verschwand.

UNTER EINEM SCHWARZEN HIMMEL LIEGT EIN UNBEWOHNBARES LAND.
     
    Eine grenzenlose Wüste aus Bombenkratern, versteinerten Wäldern, verdorrten Flußbetten und endlosen Autofriedhöfen.
    Mitten in dieser Wüste liegt eine Stadt ohne Menschen. Eine Stadt voller Schatten und schwarzer Fensterhöhlen, das Gerippe einer Stadt.
    Mitten in dieser Stadt gibt es einen Jahrmarkt, dort ist die Stille am tiefsten. Die rostigen Gondeln des Riesenrades schwanken im kalten Wind, und die Karussellpferdchen sind ergraut vom Staub.
    Nichts ist zu hören als das gleichmäßige Pochen eines riesigen fallenden Wassertropfens, immerzu, immerzu, gewaltig und beharrlich.
    Oder ist es ein Herzschlag? Aber wenn es ein Herz ist, das da schlägt, wessen Herz ist es dann? Eines Menschen? Eines Tieres? Eines Engels vielleicht?
    In der Mitte des toten Jahrmarkts steht ein Kind. Es steht vor einer Bude, die bunt bemalt ist mit unzähligen Figuren, die Gelächter, Rührung und Wunder verheißen. Nach einer Weile, da niemand es daran hindert, wagt es sich ins Innere der Bude. Dort findet es ein paar blankgewetzte Holzbänke vor einem geschlossenen, vielfach geflickten Vorhang, der im Halbdunkel leise vom Luftzug bewegt wird. Plötzlich strahlt das Rampenlicht magisch in den Falten empor. Das Kind setzt sich ganz hinten auf die letzte Bank und wartet.
    Nach einer Weile wird eine Stimme hörbar. Sie kommt, scheint's, von hinter dem Vorhang und klingt ein wenig heiser, als habe sie lang nicht gesprochen oder als spräche sie zum ersten Mal. «Damen und Herren!» sagt sie, «unsere Vorstellung wird sogleich beginnen, aber wir müssen Sie noch um ein klein wenig Geduld bitten. Unser Theater ist nicht wie andere Theater, es läßt sich nicht maschinell betreiben wie ein Dampfschiff, es gleicht vielmehr einem Dreimaster, der abhängig ist von Ebbe und Flut, vom Wind und den Strömungen des Meeres. Und, Damen und Herren, Sie müssen doch zugeben: Im Vergleich zur brutalen und stumpfsinnigen Zielstrebigkeit eines Dampfschiffs ist ein Dreimaster schön und sensibel, wenn auch natürlich etwas antiquiert wie alles Noble.
    Was wir Ihnen zeigen, Damen und Herren, wird Sie weder klüger noch tugendhafter machen, denn unser Theater ist weder Schule noch Kirche. Das Unglück der Welt wird durch unsere Darbietung nicht vermindert - allerdings auch nicht vermehrt, das ist immerhin schon viel! Wir haben keinerlei Absichten, nicht einmal die, Sie zu betrügen. Wir argumentieren nicht. Wir wollen nichts beweisen, nichts anklagen, nichts aufzeigen. Ja, wir wollen Sie noch nicht einmal von der Wirklichkeit unserer Vorstellung überzeugen, falls Sie es vorziehen, sie für Phantasie zu halten. Es könnte scheinen, als brauchten wir Sie überhaupt nicht, Damen und Herren, doch dem ist nicht so.»
    Es entsteht eine Pause, in welcher man hinter dem Vorhang erregtes Flüstern hört. Das Kind auf der letzten Bank hat das Kinn in die Hand gestützt und wartet.
    «Da sind wir nun also», fährt die Summe, jetzt wieder laut, fort, «Sie da unten und wir hier oben. Und Sie beginnen sich wohl allmählich mit dem guten Recht dessen, der Eintrittsgeld bezahlt hat, zu fragen, warum und wofür? Sie wollen wissen, Damen und Herren, warum unsere Vorstellung noch immer nicht beginnen kann? Ich kann Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen: Niemand ist schuld.
    Was unter den gegebenen Umständen solche Schwierigkeiten macht, das ist die Verkörperung. Unser Magier arbeitet bereits seit Stunden im Schweiße seines Angesichts und mit den stärksten Beschwörungsformeln von Agrippa bis Einstein, um die Gestalt hinter diesem Vorhang bis zur Sichtbarkeit zu verdichten. Dennoch ist sie bis jetzt nur erst zweidimensional und ständig in

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