Der Spiegel im Spiegel
Gefahr, in ein Häuflein Buchstaben zu zerfallen. Vielleicht liegt es allerdings auch daran, daß erst noch so vieles zum Verschwinden gebracht werden muß, was aus früheren Vorstellungen übrig geblieben ist und nun die Bühne verrammelt. Wir sind auf Ihre Mitwirkung angewiesen, Damen und Herren. Wenn Sie also so freundlich sein wollen, uns zu helfen, so sagen wir Ihnen im Namen der Direktion herzlichen Dank. Geben Sie acht!
Ihre Aufgabe besteht darin, mit ganzer Kraft an einen Seiltänzer zu denken. Sehen Sie ihn? Hoch droben, zwischen zwei Masten, glitzernd und zart-füßig, mit nichts unter sich als einem Stückchen schwankenden Seils und dem Abgrund. Nein, Damen und Herren, kein Netz! Die Pflicht eines wahren Seiltänzers ist es, Kopf und Kragen aufs Spiel zu setzen. Den eigenen Kopf und Kragen, versteht sich, denn ein Seiltänzer ist schließlich kein General. Aber wofür?
Er will von einer Seite des hochgespannten Seils auf die andere. Er könnte ganz bequem und gefahrlos auf der ebenen Erde hinübergehen, das brächte ihn ans gleiche Ziel - aber nein, er muß unbedingt den Weg über das Seil wählen. Warum?
Die Gage ist es gewiß nicht, sie ist gering. Für niemand ist sein Wagemut von Nutzen, am wenigsten für ihn selbst. Die Bewunderung des Publikums wiegt wenig im Angesicht des drohenden Absturzes. Und überdies, was ein wahrer Seiltänzer ist, der erfüllt seine Pflicht auch, wenn niemand zusieht.
Und geht es ihm denn überhaupt darum, von der einen Seite auf die andere zu kommen? Sind nicht sogar die Seiten vertauschbar? Wofür also, bedenken Sie das bitte, setzt er seine sowieso schon fragwürdige Existenz aufs Spiel? Und das immer und immer wieder?»
In diesem Augenblick beginnt der zerlumpte, buntfleckige Vorhang sich langsam, ruckend und quietschend, zu öffnen.
«Bravo!» ruft die Stimme, «wir wissen nicht, Damen und Herren, wer von Ihnen allen dort unten soeben die richtige Antwort gedacht hat, aber durch ihn ist die Verkörperung gelungen. Allez-hopp! E voilä! Da ist er!»
Auf der Bühne im Halbdunkel steht einer, der einen großen, sonderbaren Hut aufhat. Er zeigt mit der linken Hand nach oben und mit der rechten nach unten. So steht er reglos ein Weilchen. Dann plötzlich tritt er an die Rampe, nimmt seinen Hut ab und verbeugt sich tief, fast bis zur Erde, vor dem Kind auf der letzten Bank.
«Danke!» sagt er, «das hast du sehr gut gemacht.»
«Wer bist du denn? > fragt das Kind.
«Der Pagad», antwortet der Mann, setzt sich auf die Rampe und baumelt mit den Beinen.
«Und was bist du?» fragt das Kind.
«Ein Magier», antwortet der Mann, «und ein Gaukler. Beides.»
«Und wie heißt du?» will das Kind wissen.
«Ich habe eine Menge Namen», antwortet der Pagad, «aber am Anfang heiße ich Ende.»
«Das ist ein komischer Name», meint das Kind und lacht.
«Ja», sagt der Pagad, «und wie heißt du?»
«Ich heiße bloß Kind», sagt das Kind verlegen.
«Vielen Dank jedenfalls», sagt der Mann mit dem Hut, «daß du mich dir vorgestellt hast. Dadurch kann ich mich dir nun vorstellen. Und damit ist die Vorstellung zu Ende.» Er zwinkert.
«Schon?» fragt das Kind. «Und was machen wir jetzt?»
«Jetzt», antwortet der Mann auf der Rampe und schlägt die Beine übereinander, «jetzt fangen wir etwas an.»
«Kann ich bei dir bleiben?» fragt das Kind.
«Man wird nach dir fragen», meint der Pagad ernst.
Das Kind schüttelt den Kopf. «Wo wohnst du denn?» erkundigt sich der Pagad. «Man kann nirgends mehr wohnen», antwortet das Kind. «Ich jedenfalls nicht.»
«Dann kann ich es auch nicht», meint der Pagad nachdenklich. «Was machen wir da?»
«Wir könnten zusammen iosgehen», schlägt das Kind vor, «und eine neue Welt suchen, wo wir beide wohnen können.»
«Eine gute Idee!» sagt der Pagad und setzt seinen großen, sonderbaren Hut auf. «Und wenn wir keine finden, dann zaubern wir uns eine.» «Kannst du das denn?» fragt das Kind. «Ich hab's noch nicht versucht», antwortet der Pagad, «aber wenn du mir dabei hilfst... Übrigens finde ich, du solltest doch einen richtigen Namen haben. Ich werde dich Michael nennen.» «Danke», sagt das Kind und lächelt, «jetzt sind wir quitt.»
Dann verlassen sie die Bude, den Jahrmarkt, die Stadt. Unter dem schwarzen Himmel gehen sie, angelegentlich ins Gespräch vertieft, auf den Horizont zu und werden kleiner und kleiner. Sie halten sich gegenseitig an der Hand, und man weiß nicht genau: Wer führt wen?
HAND IN HAND GEHEN
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