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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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keinen Aufstieg erinnerte, sondern nur noch an die langen, einsamen Zeiten im Ausguck.
    Zu allem Überfluß begann es auch schon, rasch dunkel zu werden. Das würde den Abstieg noch mehr erschweren. Bei der Höhe, in der er sich noch immer befand, würde er möglicherweise erst tief in der Nacht das Deck erreichen. Dort würde er wahrscheinlich nur noch eine Wache antreffen. Der Kapitän, dem er seine Klage vorzubringen gedachte, mochte um diese Zeit wohl längst schlafen, stehend an das Innere seiner Kajütentür gelehnt, wie man munkelte, denn er litt an Herzbeschwerden. Man durfte ihn dann nicht wecken. Der alte Seefahrer begann ernstlich zu überlegen, ob es nicht ratsam sei, den Besuch beim Kapitän auf den nächsten Tag zu verschieben und lieber wieder zum Mastkorb empor zu klettern -der nun freilich auch schon himmelweit über ihm lag -, als eine unerwartete Begegnung seine schwerfälligen Gedanken vollends zum Stehen brachte.
    Über die Rahe des größten Segels, tänzelnd und schwankend und dem senkrechten Weg des Seefahrers waagrecht entgegenkommend, näherte sich ein Seiltänzer in einem bunten, sehr engen Trikot, auf dem Kopf eine rote Perücke mit drei grotesken Haarschöpfen und in den Händen eine schwere, lange Balancierstange. An den Enden dieser Stange hingen wie Waagschalen zwei große Körbe, in welchen je ein mächtiger Vogels- oder Engelsfittich lag. Der Seiltänzer schien übrigens von der Begegnung ebenso überrascht wie der alte Seefahrer.
    Nun fügte es sich, daß ihrer beider Wege sich zur gleichen Zeit an jener Stelle trafen, wo die Rahe den Mast kreuzte, und keiner am anderen vorbei konnte. Einer mußte nachgeben und dem anderen den Vortritt lassen, aber keiner machte Anstalten, das zu tun. «Woher kommst du?» fragte der Seefahrer. Der Seiltänzer blickte ihn eine Weile nachdenklich an, dann antwortete er: «Ich bin vom Himmel gefallen. Sie verstehen, lieber Herr: Ich bin also kein Meister.»
    «Und wo willst du hin?» fragte der Seefahrer. «Dort hinüber», erwiderte der Seiltänzer und zeigte mit einer Kopfbewegung auf die andere Seite der Rahe. «Und darf man nun auch erfahren, woher Sie kommen, lieber Herr?» Der Seefahrer wies stumm mit dem Daumen nach oben.
    «Aha!» rief der Seiltänzer, «also wollen Sie vermutlich dort hinunter.»
    «Ja», sagte der Seefahrer, der nun plötzlich wieder fest dazu entschlossen war, «geh mir aus dem Weg!»
    «Vernünftiger wäre es», meinte der Seiltänzer, «wenn Sie mir Platz machten, bester Herr. Sie sehen ja selbst, ich kann nicht mehr zurück.»
    Tatsächlich hatte er es auf irgendeine Weise fertig gebracht, die Balancierstange auf die andere Seite des Mastes zu bringen, den er nun mit beiden Armen umklammert hielt.
    Der alte Seefahrer, welcher ein wenig höher hing, stemmte seinen Fuß gegen die Brust des Seiltänzers und trat mit ganzer Kraft, doch vergebens. Der Seiltänzer kicherte.
    «Nicht doch!» rief er, «so lassen Sie doch diesen Unsinn, lieber Herr! Was wollen Sie denn?»
    «Einer von uns muß nachgeben», sagte der alte Seefahrer grimmig, «und ich bin das bestimmt nicht.»
    «Ich auch nicht», entgegnete der Seiltänzer und lächelte zierlich, «was machen wir da?» «Kämpfen!» sagte der alte Seefahrer. Also packten sie einander und begannen zu ringen. Doch schon bald hielten sie sich gegenseitig mit derart eisernem Griff umklammert, daß keiner von beiden mehr die kleinste Bewegung machen konnte. Nachdem sie so eine Weile reglos ineinander verknäult abgewartet hatten, begann der Seiltänzer, dessen Lippen am Ohr des Seefahrers lagen, zu flüstern. Dieser antwortet, und so ging das Gewisper eine Zeit hin und her: «Willst du mir das Kreuz brechen, Lieber?» «Ich möchte wohl, aber du bist wie eine Schlange.»
    «Bist du enttäuscht? Du hast ein anderes Kreuz gesucht.»
    «In allen Nächten hab ich es gesucht am Himmel. Auf hundertvierundvierzig Fahrten um die Welt. Ich habe es nie gesehen.»
    «Vielleicht waren deine Augen nicht gut genug?»
    «Ich kenne alle Sterne, die größten und die kleinsten. Aber nicht das Kreuz. Darum will ich das deine brechen.»
    «Wozu quälst du dich und mich? Es ist vergebens. In Wahrheit warst du dir nur zu schwer -dort oben, allein im Mastkorb. Du wolltest ein Gegenwicht am Himmel.» «Und du, der du alles errätst, was suchst du?» «Ich suche das Gleichgewicht.» «Hast du es denn verloren? Hast du's besessen?»
    «Es ist mein Beruf, es immerfort zu verlieren, um es immerfort neu zu

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