Der Spiegel im Spiegel
großen Blick des Kindes hinein, «gibt es eine Ringmauer aus undurchdringlicher Schwere. Über der Pforte stehen eingemeißelt die Worte: Der Garten Eden. Ich berührte die Gitterstäbe des verschlossenen Tores, und sie zerfielen mir unter den Händen zu Rost und Moder. Ich trat durch das Tor und sah vor mir eine endlose Landschaft aus Asche und Schlacke und in der Mitte einen riesenhaften versteinerten Baum, der seine Äste in den schwarzen Himmel krallte. Und während ich noch stand und schaute, regte sich etwas neben mir, und aus einem schwarzen Loch im Boden kroch wie eine Riesenspinne ein Wesen hervor. Ich konnte nur erkennen, daß es entsetzlich ausgetrocknet und entsetzlich alt war und riesige Flügel hinter sich herschleifte. Und das Wesen wälzte sich heran und schrie in einem fort: Kommt wieder! Kommt wieder, Menschenkinder! Und es raufte sich Fäuste voll Federn aus und warf sie nach mir. Ich wich vor ihm zurück, da begann es zu kreischen und zu lachen und schrie immer weiter: Ist doch niemand mehr da außer mir! Ich bin allein, allein, allein! -Da bin ich geflohen, ich weiß nicht wie und wohin, ob es nur eine Stunde war oder tausend Jahre.»
Der Mann bleibt reglos sitzen, die Beine grade ausgestreckt vor sich, immer noch das gleiche böse Lächeln auf dem Gesicht, aber nun schaut er vor sich nieder und entläßt den Knaben aus seinem Blick. Und wieder tritt eine Stille ein, so endgültig, als sei aller Klang aus der Welt verschwunden. Aber dann, als der Knabe schon meint, nicht mehr atmen zu können, sagt die Trösterin: «Komm! Ich kann machen, daß du deine Sehnsucht für immer vergißt. Dann wirst du aufhören zu leiden.»
Der Mann steht auf, sie nimmt ihn an der Hand und geht mit ihm auf eine Tür zu. Da reißt sich der Knabe aus dem Griff des Dschin und stellt sich den beiden in den Weg. «Das darfst du nicht!» ruft er zornig. «Du darfst dein Heimweh nicht vergessen. Sie nimmt dir alles! Sie nimmt dir dich selbst weg!»
Plötzlich fühlt das Kind die harte Hand des Mannes auf seiner Wange und taumelt zurück. Er hat es geschlagen.
«Laß gut sein», sagt das graue Weib, «das Kind weiß es nicht besser. Noch nicht.»
Und sie zieht den Mann hinter sich her ins Haus.
«Er darf es nicht vergessen», stammelt der Knabe, «sonst ist doch das Paradies für immer verloren...», und nun kommen ihm doch die Tränen.
Der Straßenkehrer scheint etwas im Rinnstein gefunden zu haben. Es ist ein goldener Reif, groß wie eine Krone. Er hebt ihn auf, und während er ihn zwischen den Händen dreht, sagt er: «Ja, Kleiner, es ist deine erste Unterrichtsstunde. Und alles Böse beginnt mit dem Vergessen einer Sehnsucht.»
«Aber warum hat er mich geschlagen?»
Der Alte antwortet nicht. Er dreht und dreht den Reif.
«He, Straßenkehrer!» ruft eines der anderen grauen Weiber, «was hast du da?»
«Es scheint eine Krone zu sein», murmelt der Alte. «Irgendein armer Teufel hat sie wohl verloren oder weggeworfen. Hier werden alle unkenntlich.»
Das Weib streckt die Hand aus, ohne jedoch näher zu kommen.
«Gib sie mir! Gib sie mir!» bettelt sie.
Der kleine Alte schüttelt den Kopf. «Das darf ich nicht. Und du weißt es auch gut genug.»
«Und du? Was wirst du mit ihr anfangen?»
«Ich werde sie wohl meiner Frau mitbringen.»
«Ach! Sogar du hast eine Frau? Was du nicht sagst! Ist sie schön?»
Die anderen Weiber kichern, es klingt wie das Pfeifen von Ratten. Der graue Alte läßt sich nicht beeindrucken. «Mit der Krone schon, denke ich», sagt er heiser.
«Hast du keine Angst?» fragt eine andere Trösterin. «Unsere Königin hat befohlen, alle verlorenen Dinge ihr zu bringen. Sie läßt nicht mit sich spaßen, Alter.»
Der Straßenkehrer macht seine Augen schmal und hustet oder lacht ein wenig verlegen. «Wenn du mir versprichst, mich nicht zu verraten, will ich dir ein Geheimnis anvertrauen, meine Schöne.»
«Gut, ich verspreche es.»
«Eure Königin», sagt der Straßenkehrer langsam, «ist meine Frau.»
Plötzlich ist die Straße so leer von Trösterinnen, wie sie es zu Anfang war. Alle Türen und Fenster sind geschlossen. Der graue Alte hängt die Krone über seinen Besen, den er schultert. Er nickt dem Knaben zu, tippt mit dem Finger an den Rand seiner Mütze, und sein Grau verschwindet im Grau der Hauswände.
Der Knabe blickt fragend zu dem Dschin auf. «War es denn das wirkliche Paradies, das der Mann gefunden hat?»
«Was weiß ich», antwortet die bronzene Stimme, «was fragst du
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