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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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schaute nur nachdenklich vor sich hin.
    Das Mädchen stand auf und ging mit schüchternen Schritten auf das Katheder zu. Es kletterte auf den Stuhl und von dort zu dem Knaben im Seiltänzerkostüm hinauf. Es hockte sich neben ihn, nahm seinen Kopf auf den Schoß und hielt den Papierschirm über ihn. Alle sahen mit Verwunderung zu. «Aber wenn der Lehrer kommt...» rief die Braut ängstlich.
    «Vielleicht ist er ja der Lehrer», sagte der Junge mit den Flügeln und stand auf. Alle drehten sich
    nach ihm um. «Könnte doch sein», murmelte er und wurde
    wieder rot. Mit nachschleifenden Flügeln kam er nach vorn, kletterte entschlossen ebenfalls auf das Katheder hinauf und hielt das Gestänge seines Schirms über den ausgestreckten Körper des Knaben.
    «Unsinn!» meinte der Beamte geringschätzig.
    «Gar nicht!» gab der Junge trotzig zurück. «Er fängt schon an zu atmen.»
    Der Arzt sprang auf, kletterte wieder auf den Stuhl und legte dem Knaben die Hand auf die Brust, beugte sich über seinen Mund und lauschte.
    «Zwei genügen nicht», rief er dann, «noch mehr Schirme!»
    Alle kamen nach vorn und streckten schützend ihre Schirme in die Höhe und über den Knaben. Das Mädchen mit den Mandelaugen hatte sich tief über seinen Kopf gebeugt und nahm ihm vorsichtig die Binde mit dem roten kreisrunden Fleck ab. Ihr langes schwarzes Haar hüllte ihrer beider Gesichter ein.
    Plötzlich holte der Knabe im Seiltänzerkostüm tief Luft, hustete ein paar Mal und setzte sich auf.
    «Danke!» sagte er und blickte in die Gesichter, die sich um ihn drängten, «das war weit diesmal. Was macht ihr denn hier so?»
    «Wir warten auf den Lehrer», antwortete die Braut.
    «Bist du es vielleicht?» fragte der Junge mit den Flügeln.
    «Na hör mal!» rief der Knabe, «sehe ich etwa so
    aus?» «Wir wissen nicht, wie er aussieht», erklärte der
    Arzt.
    «Sprechen Sie gefälligst nicht in unser aller Namen!» wies ihn der Beamte zurecht. «Ich bin wesentlich länger hier als Sie.»
    Der Knabe im Seiltänzerkostüm blies ein paar Tropfen von seiner Nasenspitze und lächelte.
    «Hauptsache, daß er jetzt noch nicht da ist. Wir sollten versuchen, hier herauszukommen. Oder gefällt es euch hier?»
    «Darum geht es nicht», versetzte der Beamte, «es gibt auch so etwas wie Pflichtgefühl. Niemand hat das Recht, sich der Wirklichkeit zu entziehen, am wenigsten dann, wenn sie unangenehm ist.»
    Der Knabe im Seiltänzerkostüm ließ seine Beine vom Katheder baumeln.
    «Habt ihr schon bemerkt», fragte er sanft, «daß es genügt, für ein paar Minuten die Augen zu schließen? Wenn man sie wieder öffnet, ist man schon in einer anderen Wirklichkeit. Alles wandelt sich immerfort.»
    «Wenn man die Augen zumacht», sagte der Junge mit den durchnäßten Flügeln, «stirbt man.» «Na gut», sagte der Knabe vom Katheder herab, «das kommt auf eins heraus. Wir wandeln uns auch, da ist weiter nichts dabei. Ich war gerade ein anderer, und jetzt bin ich plötzlich der hier.» Das fette Weib nickte.
    «Eben, mein Junge. Und was hast du davon?»
    «Nichts», antwortete der Knabe, «warum soll man etwas davon haben?»
    «Ich jedenfalls», erklärte der Beamte, «werde hier bleiben und alles Wort für Wort dem Lehrer berichten, was hier vorgeht.»
    «Wie Sie wollen!» meinte der Knabe und sprang vom Katheder herunter. «Ich bin hier nur auf der Durchreise.»
    «Aber man kann hier nicht heraus», rief die Braut. «Die Tür ist zu.»
    «Man kann überall heraus», erwiderte der Knabe, «wenn man den Traum wandeln kann.»
    «Wie geht denn das?» fragte das Mädchen mit den Mandelaugen. Und der Junge mit den Flügeln setzte hinzu:
    «Was heißt traumwandeln?»
    «Alles Unsinn!» rief der Beamte.
    «Traumwandeln», sagte der Knabe im Seiltänzerkostüm, «das heißt eine neue Geschichte erfinden und dann selbst in sie hinüberspringen. Was lernt ihr eigentlich in dieser Schule, wenn ihr das noch nicht mal wißt.»
    «Wo hast du's denn gelernt?» wollte die fette Person wissen.
    «Bei einem Traumwandler, den ich selbst erfunden habe», antwortete der Knabe.
    «Und du kannst wirklich traumwandeln?» fragte das Mädchen atemlos. «Und du kannst es uns beibringen?»
    «Sicher!» versetzte der Knabe. «Allein ist es allerdings am schwersten. Zu zweit geht es schon sehr viel leichter. Und wenn es viele gemeinsam tun, dann gelingt es immer. Alle wirklichen Traumwandler wissen das!»
    «Wie sollen wir das denn machen, eine neue Geschichte erfinden?» erkundigte sich

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