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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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im weißen Kittel nickte seufzend. «Das habe ich mir gedacht. Darf ich fragen, warum Sie hier sind?»
    Der andere winkte ab und sah sich im Raum um. Wieder ließ er einige Minuten verstreichen, ehe er antwortete:
    «Ich will meine Kenntnisse in Mathematik vervollständigen. Ich bin nämlich Beamter.»
    «Aha», sagte der bärtige Mann im weißen Kittel, aber man sah, daß ihn diese Auskunft nicht sonderlich befriedigte.
    Eine Weile sah er seine Uhr an, dann schrieb er etwas auf einen Zettel und schob ihn zu seinem Gesprächspartner hinüber.
    Also sind Sie freiwillig hier? las der. Er drehte den Zettel um und schrieb auf die Rückseite: Ihre Frage trifft auf mich nicht zu. Ich tue meine Pflicht.
    Als der Mann im weißen Kittel die Botschaft gelesen hatte, sagte er halblaut und mit aufsässigem Unterton:
    «Ich bin nämlich nicht freiwillig hier. Ich bin Arzt, aber wegen einer dummen Kleinigkeit hat man mir die Lizenz entzogen. Und nun muß ich wieder ganz von vorn anfangen. Ich finde das schrecklich.»
    «Alles beginnt immer wieder von vorn», antwortete der Korrekte abweisend. «Das Leben ist Wiederholung. Mit welchem Recht erwarten Sie, daß Sie als einziger versetzt werden?»
    «Reden Sie doch nicht so laut!» rief die Braut halblaut zu den beiden hinüber. «Man könnte Sie hören, dann müssen wir alle nachsitzen.»
    «Wenn ihr mich fragt», mischte sich nun die fette Person ins Gespräch, «dann sollten wir einfach nach Hause gehen. Ich habe Hunger.»
    Der Beamte drehte sich nach ihr um und musterte sie mit seinem leeren Blick.
    «Das ist nicht möglich», sagte er kühl, «die Tür ist zu.» Wieder war es lange Zeit still, nur der Regen fiel unablässig.
    «Ich möchte wissen», murmelte der Junge mit den durchnäßten Flügeln vor sich hin, «was draußen für Wetter ist. Vielleicht sind draußen schon Ferien.»
    Das kleine Mädchen mit den Mandelaugen lächelte zu ihm herüber und flüsterte hinter vorgehaltener Hand:
    «Draußen ist das Paradies, aber man kann die Fenster nicht aufmachen.»
    «Was ist draußen?»
    «Das Pa-ra-dies.»
    «Kenn ich nicht. Was soll denn das sein?»
    «Das kennst du nicht?»
    «Nein, hab ich noch nie gehört.»
    Das Mädchen kicherte.
    «Das glaub ich dir nicht. Bist du denn kein Engel?» «Was soll denn das nun schon wieder sein?» fragte der Junge.
    Das mandeläugige Mädchen blickte eine Weile nachdenklich vor sich hin und flüsterte dann:
    «Ich weiß in Wirklichkeit auch nicht, was das Paradies ist.»
    «Was redest du dann?» sagte der Junge.
    «Aber ich weiß, daß es immer nebenan ist», fuhr das Mädchen fort. «Das weiß doch jeder.
    Dazwischen ist nur eine Wand, manchmal aus Stein, manchmal aus Glas, manchmal aus Seidenpapier. Aber immer ist es nebenan.»
    «Könnten wir dann nicht einfach die Scheiben einschlagen?» schlug der Junge vor und errötete über seine eigene Kühnheit. «Ich meine, falls es sich überhaupt lohnt.»
    Das Mädchen blickte ihn traurig an und flüsterte:
    «Das würde doch nichts helfen. Es ist immer nebenan, also ist es nie da, wo wir sind. Wenn wir da draußen wären, wäre es auch dort nicht mehr. Aber jetzt ist es da. Ganz bestimmt.»
    «Seid doch still!» rief die Braut mit unterdrückter Stimme. «Ich glaube, es kommt jemand.»
    Alle lauschten, aber nur der Regen war zu hören.
    Der Arzt stand auf und ging zum Katheder, auf dem der Knabe im Seiltänzerkostüm lag wie auf einem Katafalk. Er mußte auf den Stuhl hinter dem Katheder steigen, um ihn betrachten zu können.
    «Sollten Sie nicht lieber Ihre Aufgaben machen?» fragte der Beamte und zog die Augenbrauen hoch.
    «Vielleicht ist das meine Aufgabe», antwortete der Arzt gereizt.
    Eine Weile untersuchte er den Knaben schweigend, prüfte den Puls, öffnete mit Daumen und Zeigefinger vorsichtig eines seiner Augen, drückte da und dort, schüttelte schließlich mutlos den Kopf, stieg wieder herunter und setzte sich auf seinen Platz.
    Die fette Alte, die ihm mit wachsender Neugier zugesehen hatte, rief jetzt so laut, daß alle erschrocken zusammenfuhren:
    «Die Krankheit! Sagen Sie doch wenigstens, woran er gestorben ist!» «Am Regen», antwortete der Arzt barsch. «Vielleicht», flüsterte das mandeläugige Mädchen dem Jungen mit den durchnäßten Flügeln zu, «ist das Paradies da, wo es nicht regnet.»
    «Oder jedenfalls nicht immer», sagte der Junge mehr zu sich selbst, «nur ab und zu mal.» «Erinnerst du dich jetzt?» raunte das Mädchen. Aber der Junge antwortete nicht, er

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