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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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mich danach!»
    Aus dem Haus, in dem der Astronaut mit der Trösterin verschwunden ist. klingt das lange, rauhe Hundegeheul und vergeht trostlos und qualvoll in der glasigen Luft. Der Knabe lauscht mit blassem Gesicht, nur auf seiner Wange leuchtet noch rot der Abdruck der Hand.
    Die schuppige Klaue des Dschin ergreift wieder behutsam die Kinderhand. «Komm, Kleiner. Deine erste Unterrichtsstunde ist vorüber.»
    Als sie schon ein gutes Stück die Straße hinauf sind, bleibt das Kind noch einmal stehen und schaut zurück. «Ist es wahr, was der Straßenkehrer gesagt hat? Daß alles Böse mit dem Vergessen einer Sehnsucht beginnt?»
    «Es beginnt früher», antwortet der Dschin, «es beginnt immer mit einer verlorenen Hoffnung.» Und später, viel später, als der Knabe schon an die Spiele denkt, die er bald spielen wird, murmelt der Dschin, längst wieder allein und eingeschlossen in seinem Turm aus Eis, noch einmal vor sich hin: «Niemand vermag zu ermessen, wohin es mit einem kommen kann, der die Hoffnung verloren hat...»

IM KLASSENZIMMER REGNETE ES UNAUFHÖRLICH.
     
    Es roch morastig, denn der Bretterboden war durch die ewige Nässe schon fast zu Torf zerfallen, die Wände schimmelten, und an manchen Stellen wuchsen große, schneeige Salpetergespinste. Die Scheiben der drei hohen, schmalen Fenster bestanden aus Milchglas, damit die Schüler nicht durch die Möglichkeit hinauszuschauen abgelenkt würden.
    Die Tür auf den Korridor des Schulhauses war klumpig wieder und wieder überstrichen und hatte die Farbe von altem, abgestandenem Spinat. Auf der Wandtafel an der Stirnseite des Raums waren noch die Reste irgendeiner Formel zu lesen: ... ist ein Punkt im Vakuum... gehe zur Zeit t ein Lichtimpuls ... d ... dt ...
    Auf dem hohen, teerschwarzen Katheder vor der Wandtafel lag wie aufgebahrt der reglose Körper eines Knaben von vielleicht vierzehn Jahren. Er war in ein enganliegendes Seiltänzerkostüm gekleidet, das da und dort mit Flicken besetzt war. Die weiße Binde, die er um den Kopf trug, zeigte auf der Stirn einen kreisrunden roten Fleck. Offenbar handelte es sich um ein Zeichen, denn es war viel zu regelmäßig, als daß es durchgesickertes Blut sein konnte.
    In den Schulbänken saßen nur sechs Schüler -zwei Männer, zwei Frauen und zwei Kinder -jeder entfernt von den anderen, jeder für sich. Alle waren unter ihre Regenschirme geduckt, lasen, schrieben oder schauten starr vor sich hin. Ganz vorn saß unter einem schwarzen Schirm ein Mann unbestimmbaren Alters in betont korrekter Kleidung. Sein Gesicht wirkte unter dem schwarzen, steifen Hut blaß und bis auf die etwas vorstehenden wäßrigen Augen merkmalslos. Vor ihm auf dem Pult lag eine Aktentasche. In der Nähe der Tür saß ein bärtiger Mann mit Brille, der einen weißen Kittel trug. Er hielt einen Schirm aus durchsichtigem Plastikmaterial über sich und blickte in gewissen Abständen immer wieder auf seine Armbanduhr. Auf der Fensterseite hatte sich ein sehr dickes altes Weib in die für ihre Fülle viel zu kleine Schulbank gequetscht, so daß ihr gewaltiger Busen vor ihr auf dem Pult lag. Ihr Schirm war geblümt. Einige Reihen hinter ihr saß eine langbeinige, schlanke junge Dame in einem Brautkleid unter einem weißen Schirm mit Spitzenrüsche. Ganz im Hintergrund in der letzten Reihe saßen die beiden Kinder. Das eine, ein kleines Mädchen, hatte einen Schirm aus Ölpapier aufgespannt. Es hatte langes, blauschwarzes Haar und nachtdunkle Mandelaugen. Der Junge auf der anderen Seite wirkte sehr vernachlässigt.
    Er war klein und schmalwangig und sehr schmutzig. Seine Kleider waren zerrissen, und seine Nase lief, er wischte sie alle Augenblicke an seinem Ärmel ab. Auf dem Rücken trug er viel zu große weiße Flügel, sie waren vom Regen naß und struppig und hingen schwer herunter. Sein Schirm bestand nur noch aus einem leeren Gestänge, an dem einige himmelblaue Fetzen hingen.
    Alle schwiegen, denn Schwätzen war streng verboten. Nur der Regen fiel unaufhörlich.
    Schließlich beugte sich der Mann im weißen Kittel nach einem abermaligen Blick auf seine Uhr zu dem korrekt Gekleideten hinüber und fragte flüsternd:
    «Entschuldigen Sie bitte, aber wissen Sie vielleicht, wann der Herr Lehrer kommt?»
    Der Angeredete hielt den Finger an die Lippen. Dann schüttelte er den Kopf, und nach einer Weile raunte er zurück:
    «Man weiß nie, wann er kommt und ob er überhaupt kommt. Aber wehe, man ist nicht da, wenn er zufällig doch kommt.» Der Mann

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