Der Spiegel im Spiegel
die Braut.
«Am einfachsten», erklärte der Knabe, «wir führen alle zusammen ein Theaterstück auf.»
«O Gott», stöhnte das dicke Weib, «ich kann nicht soviel Text behalten.»
«Vor wem sollen wir denn spielen?» fragte der Arzt.
«Vor uns selbst. Wir sind Zuschauer und Darsteller zugleich. Und was wir spielen ist Wirklichkeit.»
«Aber was sollen wir denn spielen?» wollte der Junge mit den Flügeln wissen.
«Das weiß man nie vorher», antwortete der Knabe. «Man fängt einfach an.»
«Das kann aber schrecklich schief gehen», meinte die Braut. «Und was wird dann aus uns?»
Der Knabe zuckte die Achseln.
«Wer das vorher wissen will, kann eben nicht traumwandeln.»
«Aber brauchen wir nicht eine Bühne?» fragte das Mädchen mit den Mandelaugen. «Und einen Vorhang?»
«Unbedingt!» sagte der Knabe im Seiltänzerkostüm. Er nahm seine vom Regen durchtränkte Kopfbinde, und während das Mädchen seinen Papierschirm über ihn hielt, ging er zur Wandtafel und wusch mit dem Tuch sorgfältig die letzten Spuren der Formel ab. Dann wandte er sich an die anderen.
«Könnt ihr sie trocken reiben?» «Das wird nicht viel nützen», meinte der Arzt, «der Regen wird sie bald wieder naß machen.»
«Ein paar Minuten genügen», erklärte der Knabe. Er öffnete die Schubladen des Katheders und fand darin einige Stückchen bunter Kreide. Die übrigen hatten inzwischen, so gut es eben ging, die Tafel mit ihren Taschentüchern oder Jackenärmeln trocken gerieben. Der Arzt hatte sogar seinen weißen Kittel ausgezogen und als Trockentuch benützt.
«Das genügt schon», sagte der Knabe. Dann malte er mit wenigen Strichen eine Theaterbühne auf die Tafel, der Vorhang war nach links und rechts hochgezogen, und die Dekoration dahinter zeigte einen langen Korridor voller Türen.
«Man muß sich alle Möglichkeiten offen lassen», sagte der Knabe, während er die letzten Striche machte, «hinter einer dieser Türen werden wir schon etwas finden, was uns gefällt.»
Und mit einem Satz sprang er in das Bild hinein,das er eben gemalt hatte. Die anderen schauten ihm hingerissen zu, wie er auf der Bühne hin und her spazierte.
«Kommt!» rief er, «macht schnell! Der Regen!»
Erst kletterte der Junge mit den Flügeln auf die Bühne, dann folgte das Mädchen mit den Mandelaugen. Nach ihm kam die Braut. Das dicke Weib mußte von hinten vom Arzt geschoben und von vorn von denen, die schon oben waren, gezogen werden, dann sprang der Arzt selbst hinauf. Nur der Mann im korrekten Anzug stand noch unter seinem schwarzen Schirm unten und konnte sich nicht entschließen.
Der Knabe im Seiltänzerkostüm beugte sich noch einmal aus dem Bild und streckte ihm die Hand hin.
«Wollen Sie nicht doch mitkommen?» fragte er.
Der Mann schüttelte den Kopf.
«Ich glaube nicht daran.»
«Das brauchen Sie nicht. Tun Sie's einfach!»
«Aber -» Der Beamte trat einen Schritt zurück, «ich wüßte nicht, was euch an mir liegen sollte. Ich passe nicht in euer Stück.»
«Uns liegt nichts an Ihnen», antwortete der Knabe, «aber in unser Stück paßt jeder.»
Über das Bild liefen schon allenthalben Regentropfen und machten es undeutlich.
«Ich möchte lieber nicht», sagte der Mann.
«Schade», rief der Knabe, dann verbeugte er sich wie ein Zirkusartist. «Leben Sie wohl!»
Der Vorhang senkte sich langsam von beiden Seiten. Da faßte sich der Mann im letzten Augenblick ein Herz, klappte seinen Schirm zusammen, klemmte seine Aktentasche unter den Arm, hielt seinen Hut fest und sprang durch den Schlitz des Vorhangs, der sich hinter ihm schloß.
Der unaufhörliche Regen wusch nach und nach das Bild von der Tafel.
IM KORRIDOR DER SCHAUSPIELER TRAFEN WIR EINIGE HUNDERT WARTENDE
an. Sie saßen und standen an den Wänden entlang, reglos und geduldig.
Viele hatten entblößte Oberkörper, manche waren gänzlich nackend. Auch Frauen und Kinder waren darunter. Die Körper der meisten zeugten von großen und schon lang erduldeten Entbehrungen. Sie waren mager und bis zur Hinfälligkeit geschwächt.
Keiner von ihnen blickte auf, als wir durch ihre Reihen gingen. Einige hielten die Augen geschlossen und bewegten die Lippen, als memorierten sie den Text ihrer Rollen, andere starrten leer ins Weite oder auf den Boden.
Vor einem Alten, der in eine grobe Pferdedecke gehüllt auf einem Schemel saß, blieben wir stehen und fragten ihn, aus welchem Grunde er hier sei.
«Ich muß auf mein Kostüm warten», antwortete er mit verlegenem
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