Der Spiegel von Feuer und Eis
Stufen. Es kümmerte sie nicht. Sie stürmte in den dunklen Hof, rief immer wieder Lunns Namen und erhielt keine Antwort. Die Stromschnellen des Laith rauschten und lachten durch die Nacht.
Ein dröhnendes Hämmern an ihrer Tür schreckte Cassim aus dem Schlaf. Morgwen! Es ist ihm etwas zugestoßen! – Die Firnwölfe haben uns gefunden! Erst allmählich begriff sie, dass es auf dem Gang vor ihrem Zimmer für ein solches Grauen viel zu ruhig war. Keine entsetzten Stimmen, kein Hin- und Herrennen,
nur das heftige Pochen, das eben erneut erklang. »Bitte, Herrin Cassim! Bitte, wacht auf! Helft mir!« Als sie Ailis’ Stimme erkannte, schlug sie rasch die Decken zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Kälte biss in ihre bloßen Füße, als sie zur Tür eilte und sie öffnete.
»Was ist denn geschehen?« Die rot geweinten Augen und das zerzauste Haar der jungen Frau ließen sie das Schlimmste befürchten, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was das sein könnte.
»Lunn ist verschwunden!« Die Worte kamen zwischen harten Schluchzern.
Erschrocken sah Cassim die andere an. »Seid Ihr sicher?«
Die Antwort war ein Nicken. »Ich habe ihn überall gesucht. Ich kann ihn nirgends …« Der Rest des Satzes ertrank in Tränen.
Cassim presste die Lippen zusammen. Der Kleine trieb bestimmt keinen bösen Scherz mit ihnen, aber wo war er?
»Habt Ihr auf dem Abtritt nachgesehen? Vielleicht musste er …«
»Dort war er nicht. Auch im Stall habe ich gesucht.« Verzweifelt rang die Frau die Hände. »Er hat nicht mehr am Leib als ein Hemd! Er wird erfrieren!«
»Weckt den Wirt! Er muss uns suchen helfen. – Ich ziehe mich rasch an.«
Ailis hastete davon.
Als Cassim nur wenig später in die Schankstube kam, war der Wirt gerade dabei, das Hemd in die Hose zu stopfen. Sorge war in seinem Blick, als er ihr entgegensah. Auf einem der Tische stand eine Laterne.
»Geht Ihr mit der Herrin Ailis. Sie soll Euch noch einmal zeigen, wo sie gesucht hat.« Er zündete die Kerze an, schloss das mit dünnem Leder bespannte Türchen und gab sie Cassim, nachdem sie sich ihren Umhang übergeworfen hatte. »Ich wecke die Nachbarn. Sie müssen uns bei der Suche nach dem Kleinen helfen.« Er griff sich seinen Mantel und hastete hinaus.
Cassim und Ailis folgten ihm, suchten im Licht der Laterne noch einmal den Hof der Schenke ab. Weder beim Abtritt noch im Stall war der Kleine zu finden. Die Jerne schnaubten unruhig, als sie sogar in ihren Ständen nachsahen.
Es war Cassim, die auf den Einfall kam, unter dem Fenster der kleinen Kammer nach Spuren zu suchen. Direkt an der Hauswand war der Schnee weitestgehend unberührt – abgesehen von einer zertretenen Stelle am Fuße eines eisverkrusteten, nur noch lose in seiner Verankerung hängenden Spaliers, an dem sich vor sehr langer Zeit einmal Pflanzen emporgerankt haben mochten. Das Gewicht eines etwas älteren Kindes hätte es bestimmt nicht mehr getragen, doch Lunns magerem, kleinen Körper hatte es offenbar noch standgehalten.
Die Abdrücke seiner bloßen Füße waren im glatten Schnee eindeutig auszumachen, bis sie sich in dem festgetrampelten des Hofes verloren. Doch es war deutlich zu erkennen, dass sie beinah geradlinig am Stall vorbeiführten und auf eine sanft abfallende Ebene zuhielten, die nach einigen Hundert Schritten zum Wald hin anstieg. Dicht an dicht schmiegten sich hier die Bäume düster und undurchdringlich an den Hängen der steilen Felswände empor, die sich auf der anderen Seite des Flusses drohend in den sternenklaren Himmel reckten. Eine vor Angst noch immer hilflose Ailis an der Hand, überquerte Cassim den Hof, ging zwischen Stall und Abtritt hindurch und suchte jenseits der Grenze des Gasthauses nach Anzeichen dafür, dass Lunn tatsächlich hier gewesen war.
Die Spur, die sie fand, war größer als die, die der Junge unter dem Fenster hinterlassen hatte, und sie kam scheinbar vom Stall her und wies in Richtung des Waldes. Verwirrt sah sie sich um. Ailis’ Aufschrei ließ sie herumfahren. Ein Stückchen weiter war eine zweite, kleinere Spur – die der ersten folgte, sich sogar teilweise mit ihr deckte. Ein dunkles Bündel hob sich einige Schritte entfernt deutlich vom Weiß des Schnees ab. Eben sank Ailis daneben auf die Knie, nahm es vorsichtig auf und
drückte es an ihre Brust. Cassim sah Tränen auf ihren Wangen glitzern und erkannte Wuffel. Rasch trat sie neben die andere und legte ihr die Arme um die Schultern. Unter einer dicken Schneeschicht war der Boden
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