Der Spiegel von Feuer und Eis
Fluten, versanken. Nicht alle kamen wieder empor. Dem anderen Boot schlitzte das Eis den Rumpf auf. Seine Besatzung ruderte verzweifelt gegen die Strömung an, ehe auch ihr Nachen auseinanderbrach.
Am Ufer heulten die Dorfbewohner vor Entsetzen und Wut, als sie hilflos zusehen mussten, wie ihre Freunde und Nachbarn um ihr Leben kämpften. Einige blieben zurück, um ihnen an Land zu helfen, während die mit Harpunen und Haken bewaffneten Männer weiter am Fluss entlangrannten und vergeblich versuchten, mit dem tosenden Strom Schritt zu halten. Cassim und Ailis folgten ihnen, ohne den Blick von dem Firnwolf und dem kleinen weißen Bündel zu nehmen, dem die riesige Bestie mit jedem Paddelschlag ihrer gewaltigen Pfoten näher zu kommen schien.
Und dann war Lunn mit einem Mal unter Wasser verschwunden. Sie stolperten zu einem Halt, warteten keuchende Atemzüge, dass der Junge wieder auftauchen würde. Nichts geschah. Mit einem Aufschrei brach Ailis zu Boden. Cassim kauerte sich neben sie, schlang die Arme um die haltlos schluchzende Frau. Auf dem Fluss verschwand auch das Wolfsungeheuer, tauchte ein Stück weiter kurz wieder auf – und kämpfte mit aller Kraft gegen die Strömung an, um zu der Stelle zurückzugelangen, an der Lunn vor einer Ewigkeit untergegangen war. Wieder verschwand das Monster unter Wasser, wieder tauchte es ein Stück weiter auf. Eine Welle schleuderte den mächtigen Körper gegen einen Felsen, zerrte ihn über die gezackten Kanten, drückte ihn unter die Oberfläche. Die Bestie kam erneut hoch, arbeitete sich abermals an die gleiche Stelle zurück, nur um abermals unter Wasser zu verschwinden. Dieses Mal schien auch das Wolfsungeheuer nicht wieder an die Oberfläche zurückzukommen.
»Er hat ihn!« Cassims Stimme kippte in einem ungläubigen Schrei. Sie schüttelte Ailis, drehte sie zum Fluss um, wo das riesige weiße Geschöpf gerade wieder auftauchte. Seine Pfoten bewegten sich stockend, während es sich mühte, aus der wütenden Strömung heraus ans Ufer zu gelangen. Die Zähne hatte es in Lunns Schulter geschlagen. Es hielt den Kopf starr über Wasser – und damit auch den Jungen. Wie es schien, paddelte es auf eine weiß überzogene Sandbank zu, die vom Ufer aus ein Stück in den Laith hineinragte und sich im nächtlichen Dunkel geisterhaft fahl von der Schwärze des Flusses abhob.
Cassim packte Ailis bei der Hand und rannte los, hinter den Männern mit ihren Netzen, Seilen und Harpunen her, die dabei waren, einen grauenvollen Fehler zu begehen.
Sie hatten die kleine Landzunge fast erreicht, als ein Heulen sie schaudern ließ. Qual und Wut hielten sich darin die Waage. Cassim lief schneller. Die eisige Luft brannte bei jedem Atemzug in ihrer Brust, während sie Ailis hinter sich herzog. Ein
Rund aus Rücken und Schultern versperrte ihnen die Sicht. Schlitternd kamen sie zum Stehen, schoben sich zwischen den Männern hindurch, die den Firnwolf eingekreist hatten und ihn mit vorgereckten Harpunen und Haken in Schach hielten. Das Tier wand sich unter mehreren Netzen. In seinem triefnassen Fell gefror das Wasser zu glitzernden Eiszapfen. Die Ohren angelegt, die frostbrennenden Augen schmal, versuchte es, sich freizukämpfen, schnappte belfernd mit seinen mörderischen Fängen nach einem Mann, der ihm zu nahe kam. Ein Strick legte sich um seine Kehle, riss es zurück und zu Boden. Schwer schlug der mächtige Körper im Schnee auf. Ein weiteres Netz, ein weiterer Strick! Beides wurde angezogen. Etwas brach mit dem Knacken von Holz. Die Bestie fletschte die Fänge. Schwere weiße Flocken trudelten aus dem Nachthimmel herab, zischten, wenn sie von den Flammen der Fackeln verzehrt wurden. Ein Stück abseits waren zwei der Männer dabei, ein lebloses Bündel – Lunn – in ihre Mäntel zu wickeln. Mit einem Schrei riss Ailis sich von Cassim los und stürzte zu ihrem Sohn.
Cassim konnte nicht aufhören, die Kreatur anzustarren. Ein schwarzer Aalstrich begann auf seiner Stirn und führte über seinen Rücken bis zur Spitze der Rute. Es war das gleiche Ungeheuer, das sie auch in jener Nacht gesehen hatte, in der sie beinah in dem kleinen Dorfsee ertrunken war. Plötzlich war ein Zittern in ihrem Inneren. Vielleicht waren sie nur zu zweit? Vielleicht findet der Eisprinz uns nicht, wenn die Männer es töten. Cassim ballte die Fäuste, unfähig, den Blick von dem Monster zu lösen. Aus dem einen Hinterlauf ragte der abgebrochene Schaft eines Armbrustbolzens. Bläulich glänzendes Blut quoll aus der
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