Der Spiegel von Feuer und Eis
Was hat das zu bedeuten? Lebewohl sagen? Du bist hier, du lebst! Und du bist frei!« Ihre Hände klammerten sich in sein Hemd aus weißem Leder. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass er keinen Mantel trug.
Sanft machte er sich von ihr los, trat zurück. Im Mondlicht war sein Gesicht eine Maske aus Schmerz. »Ailis, Liebste, ich bin nicht frei. Ich bin ein Sklave der Eiskönigin. Ich werde es immer sein.«
»Dann musst du fliehen. Wir gehen in den Süden, dort, wo der Lord des Feuers noch Macht hat …« Sie ergriff seine Hände, als wolle sie jetzt sofort aufbrechen.
Wieder schüttelte er den Kopf. »Ich kann nicht, Liebste. Selbst wenn ich bis ans Ende der Welt gehen würde, es würde nichts ändern.« Sanft fasste er sie bei den Schultern. »Bitte, mach es mir nicht noch schwerer.«
»Und was ist mit mir?« Silbriges Glitzern löste sich aus ihren Augen, rann über ihre Wangen. »Was ist mit Lunn? – Seit sie gekommen sind, um dich zu holen, suchen wir dich. Und jetzt willst du uns einfach fortschicken? Warum, Kavan? Warum? Was hat Sie mit dir gemacht?«
Seine Hände umfingen ihr Gesicht. Mit den Daumen wischte er ihre Tränen fort, lehnte seine Stirn gegen ihre. Seine Berührung war kalt. »Ich weiß nicht, was Sie getan hat. Ich weiß nur … Mit ihrer Magie … Sie hat mich verändert.« Ailis
schluchzte hilflos auf. »Für mich gibt es nur noch das Leben, zu dem Sie mich verdammt hat.«
»Kavan.« Sie weinte leise.
Sacht streichelten seine Finger ihr Gesicht, wie er es früher so oft getan hatte. »Bitte, Liebste, nicht. Du musst dir um mich keine Sorgen machen. Es geht mir gut.«
»Wie kann es dir gut gehen, wenn Sie dich verhext hat? Wenn Sie dich zu einem Sklaven gemacht hat? – Komm mit mir!«
Abermals schüttelte er den Kopf. »Ich kann nicht.« Er löste sich so langsam von ihr, dass sie es erst begriff, als er schließlich zurücktrat. »Ich liebe dich, Ailis, und ich würde mein Leben dafür geben, wieder bei dir und Lunn sein zu können. Aber ich lebe jetzt in einer anderen Welt; eine Welt, in der du niemals glücklich sein könntest, und ich diene einem Herrn, dem ich gerne diene.«
»Aber …«
»Nein, Ailis! Nein! Das hier ist ein Lebewohl. Behalte mich in deiner Erinnerung! Denke manchmal an mich, aber so, als wäre ich in jener Nacht tatsächlich gestorben.« Seine Stimme brach. »Ich will, dass du wieder glücklich wirst, Ailis. Such dir einen anderen Mann! Einen, der für Lunn ein guter Vater ist! Der euch beide ebenso liebt, wie ich es immer tun werde.« Er streckte die Hand aus, ließ sie wieder fallen, ehe sie sie ergreifen konnte. »Versprich mir das! Willst du?«
Ailis brachte nur ein Nicken zustande.
Ein schmerzliches Lächeln glitt über Kavans Gesicht. »Gib Lunn einen Kuss von mir. – Ich liebe dich!« Er trat weiter zurück, verschmolz mit den Schatten und dem Schnee. Dann war er endgültig fort. Der kalte Wind ließ die Tränen auf Ailis’ Wangen gefrieren.
Das Geräusch eines Fensterladens, der in den eisigen Böen gegen eine Hauswand schlug, riss sie irgendwann aus ihrer Erstarrung. Einen Augenblick starrte sie noch benommen in die mondhelle Nacht, dann ging sie zum Gasthaus zurück. Dort
war das Einzige, was ihr die Grausamkeit der Eiskönigin gelassen hatte. Ein klein wenig wunderte sie sich darüber, wie schwer ihre Schritte auf den Stufen klangen. Nachdem sie sich innerlich so vollkommen leer fühlte, hätte sie eigentlich etwas anderes erwartet. Vor der Tür zu ihrer Kammer hielt sie kurz inne, um sich die Nässe der wieder geschmolzenen Tränen aus dem Gesicht zu wischen, ehe sie eintrat.
Das Erste, was sie sah, war der offene Fensterladen. Hatte sie ihn nicht richtig verriegelt und der Wind hatte ihn losgerissen? Rasch schloss sie ihn wieder, damit die Kälte Lunn nicht aufweckte. Schließlich trat sie ans Bett, um sich zu überzeugen, dass ihr Sohn es auch warm hatte. Ihre Bewegung erstarrte. Die Decken waren zu einem Berg zusammengeschoben. Lunn war nicht da. Einen Moment stand sie wie gelähmt – unfähig, sich zu bewegen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Dann zuckte ihr Blick durch die kleine Kammer. Hier gab es nichts, das ihrem Sohn als Versteck hätte dienen können. Vielleicht war er in ihrer Abwesenheit aufgewacht, hatte entdeckt, dass er allein war, und sich auf die Suche nach ihr gemacht? Wo würde er nach ihr suchen? Hätte sie ihn nicht sehen müssen? Ailis rannte auf den Gang hinaus, die Treppe hinunter. Ihre Schritte polterten auf den
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