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Der Spiegel von Feuer und Eis

Der Spiegel von Feuer und Eis

Titel: Der Spiegel von Feuer und Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Morrin Alex
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das Wollkleid, das sie nun anstelle des zerfetzten Gewandes trug. Ein warmer Schal lag über dem Fußende des Bettes. Weiche Halbstiefel schmiegten sich an ihre Füße. Auch
Lunn würde nicht mehr in Lumpen gehen müssen. Noch immer konnte sie es nicht glauben. Im einen Moment hatte der Wirt sie davongejagt, im nächsten saß sie an einem Tisch in seiner Schenke und er platzierte eine Schüssel köstlich duftenden, heißen Brocan und weißes Brot vor ihr und eine Schale honigsüßen Haferbrei vor Lunn.
    Nachdenklich blickte sie zur Tür. Sie wusste nicht, wer der schwarzhaarige Fremde war, dem sie all das zu verdanken hatte. Dabei hatte sie immer geglaubt, die Freunde ihres Mannes zu kennen – und doch hatte er sie unter seinen Schutz gestellt und hierhergebracht. Selbst Lunn, der sich seit jener entsetzlichen Nacht vor Fremden – und vor allem vor Männern – fürchtete, hatte offenbar gespürt, dass sie bei diesem Mann in Sicherheit waren. Sie wäre beinah in Tränen ausgebrochen, als sie gesehen hatte, wie er ihren Sohn auf den Arm genommen und Lunn zutraulich sein Gesichtchen an seinem Hals geborgen hatte.
    Ein Geräusch schreckte sie auf. Da! Sie hatte sich nicht getäuscht. Abermals schlug etwas mit einem dumpfen Patschen gegen das Holz der geschlossenen Läden. Zögernd entzog sie sich Lunns Griff und stand auf.
    »Mama …«, das verschlafene Wimmern ihres Sohnes ließ sie innehalten und sich über ihn beugen.
    »Ich bin hier, mein Liebling. Hab keine Angst. Schlaf weiter!«
    »Nicht weggehen!« Lunn streckte die Hände nach ihr aus. Wieder ein Patschen.
    »Ich gehe nicht weg. Schlaf, mein Finklein!« Sie küsste ihn sanft auf die Stirn und strich die Decken über ihm glatt. Beruhigt schloss er die Augen wieder.
    Aufmerksam trat sie ans Fenster. Erneut traf etwas gegen das Holz. Ihre Finger verharrten einen letzten Moment über dem Riegel, dann zog sie ihn zurück und schob die Läden vorsichtig auf. Weicher Mondschein ließ den Schnee jenseits der Dorfgrenzen funkeln. Das leise Murmeln und Rauschen der
Stromschnellen des Laith klang durch die Nacht. Auf der anderen Seite des Flusses reckten sich steile Felswände in den dunklen Sternenhimmel. Unten im Hof der Schenke bewegte sich etwas in den Schatten neben dem Stall. Eine Gestalt löste sich daraus. Soweit sie erkennen konnte, ein Mann. Er winkte ihr zögerlich zu, bedeutete ihr, zu ihm zu kommen. Ailis kniff die Augen zusammen, versuchte auszumachen, wer dort im Schnee stand. Es gelang ihr nicht. Wieder ein Winken. Sie wich zurück. Die Gestalt trat einen Schritt weiter auf den Hof hinaus, ins Mondlicht. Unwillkürlich hielt Ailis den Atem an. Plötzlich schlug ihr Herz hart gegen ihre Rippen. Sie blickte zu Lunn hin. Offenbar schlief er wieder tief und fest. Geräuschlos schloss sie die Läden wieder, nahm das Wolltuch vom Bett, schlang es sich um die Schultern und verließ leise die Kammer. Als sie außer Hörweite war, hastete sie die Stiege hinunter. In der Schankstube war es dunkel und still. Sie tastete sich an den Tischen vorbei zur Tür zum Hof und schlüpfte rasch hinaus in die Kälte. Unter ihren Füßen knirschte der festgetrampelte Schnee, während sie zum Stall hinüberrannte. Der Mann wartete noch immer dort, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte. Plötzlich wollten ihre Beine nicht mehr weiter. Zitternd blieb sie stehen, starrte ihn an. Ihre Hand hob sich zu ihren Lippen, erstickte ihr Keuchen.
    Er hatte sich verändert. Sein Haar schimmerte im Licht des Mondes wie reifüberzogenes Elfenbein. Sogar seine Augen schienen heller geworden zu sein. Und doch war er es zweifellos …
    »Kavan!« Sie flog in seine Arme, schmiegte sich so fest an ihn wie nur möglich. Er presste sie an sich, als hinge sein Leben davon ab.
    »Ailis!« Immer wieder flüsterte er ihren Namen. »Ailis!« Seine Stimme klang erstickt.
    »Kavan!« Ihre Hände strichen über sein Gesicht, als könne sie sich nur so davon überzeugen, dass er tatsächlich da war,
dass er es tatsächlich war. Ihre Stimme war Schluchzen und Lachen zugleich. »Ich habe dich gefunden! Endlich! Jetzt wird alles gut! Wir können wieder nach Hause gehen. – Kavan? Kavan, was ist?« Verwirrt sah sie ihn an, ließ es zu, dass er sich schmerzlich langsam aus ihren Armen löste und zurücktrat. »Was …?«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht mit dir nach Hause gehen, Liebste. Ich … Ich bin nur gekommen, um dir Lebewohl zu sagen.«
    »Kavan … Warum kannst du nicht mit mir nach Hause kommen?

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