Der Spinnenmann
schaute auf die Armbanduhr, stellte fest, dass es schon zwanzig nach zwei war, und erinnerte Johansen daran, dass er mir die Stelle zeigen wollte, wo er das geheimnisvolle Licht gesehen hatte.
Im Nachhinein kann ich nicht erklären, warum ich so sicher war, dass es sich um Schüsse gehandelt hatte. Vielleicht lag es an meiner Müdigkeit, vielleicht einfach nur an Wetter und Umgebung.
Auf jeden Fall wirkten die scharfen Schüsse in dem gefrorenen Tiefland auf mich bedrohlich und unheilschwanger.
War es Raubmord?
Die Jagd nach dem fliegenden X blieb wie erwartet ohne Ergebnisse.
Eine holprige Fahrt mit Johansens Lastwagen brachte uns über den Tvetenvei nach Osten und von dort weiter über einen schmalen Waldweg. Etwa zwanzig Minuten lang rollten wir langsam zwischen hohen Felsrücken und krummen Kiefern, bis der Weg eine Lichtung erreichte.
Johansen würgte den Motor ab. »Genau hier war es. Ich hatte da bei der Sägemühle Bretter geholt, dann sah ich das Licht.«
Er zeigte auf die Baumwipfel. »Ja, es wurde gerade dunkel«, fügte er wie zur Entschuldigung hinzu. »Aber es war ein Licht, das kann ich beschwören, mit einem zigarettenförmigen Schatten dahinter. Und dann hörte ich ein Brummen, ehe es hinter dem Hügelkamm dort verschwand.«
»Was befindet sich denn da?«
»Nur Wald, möchte ich meinen.«
»Na, dann sehen wir doch mal nach.«
Johansen öffnete die Autotür und stieg ein: »Ja, dann müssen wir die Beine in die Hand nehmen.«
Ich folge ihm zögernd. Ehrlich gesagt war ich unsicher, ob ich die richtigen Schuhe für diese Expedition trug. Nachdem ich mein einziges Paar Fettlederstiefel in Nagelschuhe verwandelt hatte, hatte ich heimlich das Schuhwerk des verstorbenen Gatten meiner Vermieterin ausgeliehen. Es hatte ihm offenbar sein Leben lang treu gedient, hatte Schuhschoner und Eisenbeschlage an der Spitze. Ich hoffte bei Gott, dass sie die Feuchtigkeit abhalten würden.
Wir brachten mehrere steile Hügelkuppen und tiefe Senken mit gefrorenen Moorlöchern hinter uns. Mehrmals brach ich durch das dünne Eis und trat ins Schlammwasser - meine Füße wurden natürlich triefnass. Endlich konnten wir den Hügelkamm hochklettern, den Johansen mir gezeigt hatte. Dahinter lag ein Waldsee, wo der Frostnebel dicht über dem dunklen Wasserspiegel hing. Über eine Stunde lang bahnten wir uns einen Weg durch die Wildnis am Ufer, im vergeblichen Versuch, dann Geisterflieger zu finden - oder überhaupt irgendetwas Außergewöhnliches -, bis die Dunkelheit es unmöglich machte weiterzusuchen.
Danach fuhr Johansen mich zum frisch errichteten Haus von Möbelhändler Agnaess in der Mollergate 12, wo Arbeiterbladet seit dem Brand im November des Vorjahres seine Redaktionsräume hatte. Ich erinnere mich voller Graus an diese Anfänge. Das Zeitungspersonal musste sich zwischen den Zimmerleuten einschleichen, die Wände aufstellten, zwischen den Klempnern, die Abzugstrichter für die Satzmaschinen einrichteten. Aber Gott sei Dank war alles fertig geworden. Die Büros waren eng und unpraktisch, aber nachdem die Handwerker verschwunden waren, senkte sich immerhin eine wohltuende Stille über die Räume.
An jenem Mittwochabend war es stiller denn je. Erschöpft und mit bis zu den Knien durchweichten Hosenbeinen ließ ich mich auf meinen Stuhl fallen und hackte einige Spalten über Johansens »geheimnisvolle Beobachtungen« für die Donnerstagsausgabe in die Maschine. Es war acht Uhr, als ich endlich mein Zimmer in Grünerlokka aufsuchen konnte.
Damals hatte ich mich bei Frau Ragnhild Weger eingemietet. Sie ist eine Freundin meiner Mutter, aber das ist vielleicht ein wenig übertrieben. Trotz des klaren Klassenunterschiedes hatte die Witwe meine Mutter ins Herz geschlossen, weil sie »Schweizerin« war. Frau Weger war mit einem Schweizer Ingenieur von Spikerfabrikken verheiratet gewesen und hielt alles, was aus der Schweiz kam, für ebenso fein und kultiviert wie ihren seligen Gatten. Als ich mein erstes Interesse am Journalismus zeigte, hielt Frau Weger auch das für einen Beweis für meine nationalen Erbanlagen und bot mir sofort für billiges Geld ihr Mädchenzimmer an.
Frau Weger wohnte in einem vierstöckigen Mietshaus am Ende der Nedregate. Warum irgendwer es seinerzeit für sinnvoll befunden hatte, ein vornehmes Frognerhaus mit Stuckranken und verschnörkeltem schmiedeeisernen Tor ausgerechnet dort unten aufzustellen, ist mir ein Rätsel. Aber hier stand es nun in einsamer Majestät
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