Der Spinnenmann
Morgenrock über ihr Nachthemd geworfen hatte, versuchte vergeblich, die Witwe zu trösten. Hinter ihr stand ein bleicher Mann und schien zu frösteln, während er die Haustür offen hielt. Dahinter sah ich eine Treppe, die in den ersten Stock führte. Bei der Villa Borgheim handelte es sich um ein Zweiparteienhaus. Die anderen waren vermutlich die Nachbarn des Ehepaars Rustad.
Die Nachbarn blieben vor der Tür stehen, als die Polizisten Frau Rustad langsam über den Gartenweg zum dort wartenden Streifenwagen führten. Als sie das Tor erreicht hatten, sprang ich vor.
»Frau Rustad!«
Sie schaute mich aus schmalen verweinten Augen überrascht an.
»Ist Ihr Mann bedroht worden?«
Als Antwort erhielt ich nur ein verzweifeltes Heulen.
»Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?«, fragte ich nun. »War er …«
»Jetzt reicht es aber!«, brummte der ältere Polizist. »Siehst du nicht, dass die gnädige Frau unter Schock steht!« Er wandte sich an seinen jüngeren Kollegen. »Krogsveen. Ich kümmere mich um Frau Rustad, und du sorgst solange dafür, dass dieser Zeitungsschmierer erst mal spazieren geht.«
Krogsveen packte mich am Arm und zog mich über den Weg. »Hier hast du nichts zu suchen, junger Mann! Du wartest auf die Verlautbarungen der Polizei wie alle anderen.«
Dann ging er zu seinem Kollegen zurück, der die Frau inzwischen ins Auto bugsiert hatte. Sie stiegen ein, ließen den Motor an und rollten langsam an mir vorbei auf den Jenshaugvei zu. Auf der Rückbank saß Frau Rustad und lehnte apathisch den Kopf ans Fenster.
Vor meinem inneren Auge sah ich ihren Mann auf dem Vordersitz des Dodge.
Mit dem Streifenwagen verschwand auch meine Aussicht auf eine exklusive Geschichte. Ich drehte mich erwartungsvoll zu dem Paar oben beim Haus um, aber die beiden wichen sofort erschrocken zurück und knallten die Tür zu. Gleich darauf sah ich, dass im ersten Stock Licht gemacht wurde. Ich machte nicht einmal den Versuch, anzuklopfen. Auch hier war nichts zu holen.
Die nächtliche Stille kehrte zurück in den Jenshaugvei. Ich blieb eine Weile unschlüssig in der Dunkelheit beim Gartentor stehen. Irgendetwas musste ich doch für die Morgenausgabe besorgen. Ich ging zur nächsten Laterne, zog meinen Notizblock hervor und kritzelte einige Eindrücke: Wachtmeister überbringen Todesnachricht, Frau Rustad unter Schock, die Nachbarn außer sich. Ich versuchte, mir noch mehr zu überlegen, aber es gelang mir nicht.
Ich stand vielleicht seit einer Viertelstunde da, als ein prickelndes Gefühl in der Schläfe mich veranlasste, den Blick zum Haus zu heben. Im ersten Stock waren jetzt alle Lampen gelöscht. Auch das Erdgeschoss war dunkel.
Oder …
Ich konnte die Querwand auf der Ostseite nicht sehen, aber plötzlich bemerkte ich einen schwachen Lichtstreifen, der über den Stamm einer zwei Meter vom Haus entfernt stehenden Tanne fiel. Konnte das Licht aus einem Fenster auf dieser Seite stammen? Als der Lichtstrahl ein weiteres Mal über den Baumstamm schweifte, war ich sicher.
Jemand lief im Erdgeschoss mit einer Taschenlampe umher! In Rustads Wohnung!
Vorsichtig schlich ich durch den Garten zur Rückseite des Grundstücks, das auf das Wäldchen zulief. Als ich mich unterhalb der Felskuppe zusammenkauerte, hatte ich einen guten Blick auf die Wohnzimmerfenster im ersten Stock. Kein Licht. Nach zwei Minuten bewegte ich mich vorsichtig die Felskuppe hoch und weiter bis zum Haus. Von dort folgte ich der Wand bis zur Hausecke und schaute vorn herum. Die Vorhänge hinter den Fenstern in der Querseite waren geschlossen. Drinnen war es dunkel.
Hatte ich mich geirrt?
Ich ging zu einem Fenster und sah sofort, dass die Haken nicht fest saßen. Natürlich konnte Frau Rustad vergessen haben, das Fenster zu schließen. Trotzdem war ich sicher, dass hier soeben jemand herausgestiegen war. Jemand, der eben noch mit einer Taschenlampe durch die Wohnung gelaufen war.
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und konnte das Fenster aufstochern. Ohne zu überlegen setzte ich den Fuß auf ein an der Hauswand befestigtes Rosenspalier, zog mich auf die Fensterbank und ließ mich ins Zimmer gleiten.
Ein schwerer Geruch nach billigen Zigarren schlug mir entgegen. Als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, begriff ich, dass es sich um das Arbeitszimmer des Großhändlers handeln musste. Mitten im Zimmer stand ein großer Schreibtisch, ein wenig weiter weg ahnte ich einige Bücherregale und zwei tiefe Ledersessel an einem
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