Der Spinnenmann
blickte mich irritiert an.
»Verzeihung, ich wollte nicht unhöflich sein. Aber bei Ihnen handelt es sich wohl nicht um solche Juden, von denen die Nationalsozialisten reden - die sich als Christen ausgeben, um die Zivilisation von innen auszuhöhlen?«
Bondi schüttelte verärgert den Kopf. »Antisemitische Mythen!«
»Aber Heydrich behauptet, Sie und ihre Leute hätten Attentate verübt, Bomben in öffentlichen Gebäuden gelegt und große Schiffsunglücke verursacht?«
»Das muss er ja glauben! Für ihn ist die Organisation identisch mit den Weisen Zions, der jüdischen Weltverschwörung. Doch die Wahrheit ist, dass wir im Laufe der Geschichte stets Passivität und Anpassung vorgezogen haben. Wir sind Geschäftsleute, Schriftsteller und Anwälte, keine blutrünstigen Anarchisten!«
»Sie meinen also, Sie sind ein religiöser Verein und mehr nicht?«
»Ja, natürlich. Aber das ist für Heydrich natürlich viel zu kompliziert. In seinem Weltbild geht es beim Judentum nicht um eine Frage von Glauben und Tradition, sondern um eine Frage von Blut.« Bondi breitete die Hände aus. »Blut, Blut, Blut! Ganz Deutschland ist derzeit gefangen in diesem makabren Blutkult. Doch vor dem Hintergrund, dass jedes Individuum Millionen von Vorfahren hat, ist jede Erörterung der Blutszugehörigkeit vollkommen sinnlos. Die einzige Rasse, der Sie und ich angehören, Herr Erfjord, ist die menschliche Rasse.«
»Aber wie hat Heydrich denn erfahren, dass er einer der Ihren ist?«
Bondi wischte sich über die Stirn. »Um das zu erklären, muss ich zurückgehen zum August 1931. Nach seiner Beförderung zum SS-Sturmführer verfügte Heydrich über genügend Einkünfte, um heiraten zu können. Der Hochzeitstermin stand bereits fest, als Bruno Heydrich, der Vater des Bräutigams, um ein Gespräch unter vier Augen ersuchte. Er hatte eine schockierende Neuigkeit: Sein Sohn könnte am Tag der Hochzeit mit einem >Judenbesuch< rechnen, sagte er.«
Ich erinnerte mich an etwas, das Bondi bei unserer letzten Zusammenkunft erzählt hatte. »Ja, natürlich. Am Hochzeitstag erfährt der Adept, dass er ein Mitglied der Organisation ist.«
Bondi lächelte matt. »Das stimmt. Doch nicht im Falle Reinhard Heydrichs. Wir hatten ihn natürlich beobachtet, und wussten, dass ein Besuch katastrophale Folgen nach sich ziehen würde. Doch wir konnten nicht verhindern, dass er Kenntnis von unserem Kontakt zu seinem Vater im Jahr 1897 erhalten würde.«
»Sie meinen, dass Bruno Heydrich …« Bondi fuhr unbeirrt fort.
»Vor siebenunddreißig Jahren war unsere Organisation nicht aktiv. Wir waren über die ganze europäische Landkarte verstreut und kannten einander nicht. Nur ein kleiner Kreis wusste von der Existenz der Organisation und übernahm die Aufgabe, sie wieder zum Leben zu erwecken. Als Bruno Heydrich und Elisabeth Krantz heiraten wollten, kamen zwei unserer Mitglieder überraschend zu Besuch. Sie erzählten ihm, dass er mit dem bekannten Frank-Anhänger Jürgen Ludwig Porges verwandt sei. Danach zeigten sie ihm einen Brief, den Porges 1811 an seine Nachkommen verfasst hatte und in dem er sie aufforderte, sich der Lehre anzuschließen. Bruno Heydrich war natürlich nicht sonderlich begeistert, tat es aber allen anderen Nachkommen Porges’ gleich. Er setzte seinen Namen unter den Brief. Ein Beweis, dass er ihn gelesen hatte.«
»Damals war das wohl nichts besonders Dramatisches?«
»Nein, im Grunde nicht - bevor er unterschrieb, mussten unsere Boten versprechen, ihn nie wieder zu belästigen. Doch als er vor drei Jahren Reinhard davon erzählte, begriff sein Sohn sofort, dass der Brief - oder der Kontrakt, wie wir ihn gerne bezeichnen - eine enorme Bedrohung darstellte. Ein schriftliches Zeugnis seines sogenannten jüdischen Bluterbes würde ihn die Karriere, ja wahrscheinlich sogar das Leben kosten. Sofort leitete Heydrich eine fanatische Suche nach dem Kontrakt ein. Im großen Stil ließ er die Familien aller Frank-Anhänger in Europa und Amerika registrieren. Im letzten Jahr brachen seine Agenten in unsere Archive in Offenbach ein.«
»Hatten Sie den Kontrakt dort versteckt?«
Bondi schüttelte den Kopf.
»Nein, er wurde im Blindrahmen des Porträts von Jacob Franks Tochter aufbewahrt.«
»Eva Frank Matronita …«
»Ja, Eva Frank. Matronita ist nicht ihr Name, Herr Erfjord, sondern eine aramäische Ehrenbezeichnung für die Shekhinah, die weibliche Präsenz Gottes.« Ich sah ihn verständnislos an.
Bondi räusperte sich und fuhr fort.
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