Der Spinnenmann
»Nun, wie auch immer. Normalerweise wird die Matronita von den mächtigsten Familien behütet, doch da diese als Allererste in Heydrichs Blick geraten würden, ließen wir das Bild zwischen den weniger prominenten Familien hin- und hergehen. Es wurde ihnen gesagt, dass es sich um ein Heiligenbild handle, doch nicht, dass ein wichtiges Dokument im Rahmen versteckt war. Wir taten dies aus Rücksicht auf ihre Sicherheit, doch leider stellte sich diese Entscheidung als fatal heraus.
Im letzten Jahr wurde das Bild von der Familie Frey in Ahrensburg, nördlich von Hamburg, aufbewahrt. Die Familie bestand aus angesehenen Bürgern, die der katholischen Gemeinde angehörten. Doch dann erhielt der zuständige nationalsozialistische Gauleiter Kenntnis von ihren jüdischen Ahnen. Der Skandal und die Isolation ließen sie zu dem Schluss kommen, dass es am besten wäre, das Land zu verlassen, und sie nahmen die Matronita mit…
»Aber woher wusste Heydrich, dass das Porträt nach Norwegen gekommen war?«
»Er spürte die Familie auf, die das Bild vor den Freys behütet hatte. Unter der Folter gaben sie alles preis.«
Bondi stand auf, trat ans Fenster und spähte durch einen Spalt in den Vorhängen.
Während unserer Unterhaltung hatte er relativ ruhig gewirkt, doch die vielen Zigarettenkippen im Aschenbecher verrieten, dass seine Ruhe nur gespielt war.
Ich blickte mich im tristen Hotelzimmer um - ein Bett, ein Stuhl, ein Ofen und eine leere Holzkiste. Abgesehen von einem Öldruck, der Maria mit dem Kind zeigte, waren die Wände leer.
Mir wurde fast schlecht bei dem Gedanken, dass Bondi seine letzten Stunden womöglich hier verbringen könnte. An seiner Stelle wäre ich das Risiko eingegangen, mich auf Oslos Straßen durchzuschlagen. Doch ich hatte das Gefühl, dass er sich eher im Bett verkriechen würde, sobald ich das Zimmer verließ.
Er erinnerte mich an ein Tier, das es nicht länger erträgt, gejagt zu werden.
Ich erhob mich und stand unschlüssig da. »Ich weiß, dass der Kontrakt in Ihren Händen eine mächtige Waffe darstellt, Herr Bondi. Aber wie wollen Sie sie anwenden?«
Bondi wandte sich um und sah mich gereizt an.
»Der Kontrakt sollte ein Wunder bewirken, Erik. Hitler hat eingesehen, dass er mit der Zionistischen Weltorganisation eine Abmachung treffen muss. Deutsche Juden sollen ungehindert nach Palästina emigrieren dürfen. Auf diese Weise umgeht er wirtschaftliche Sanktionen, die das Ausland aufgrund seiner Judenpolitik verhängen würde. Denn diese könnten sein Regime schon am Beginn ersticken.«
»Aber Heydrich versucht, die Abmachung zu verhindern?«
»Ja, und er ist der Einzige, der dazu imstande ist. Er ist davon überzeugt, dass eine Auswanderung nach Erez Israel ein Machtzentrum für die jüdische Weltverschwörung erschaffen würde. Deshalb werden wir den Kontrakt benutzen, um ihn zur Anerkennung der Abmachung zu zwingen. Wir beabsichtigen sogar, ihn die Abmachung in Anwesenheit von Zeugen persönlich unterschreiben zu lassen.«
»Und haben Sie irgendeine Vermutung, wo sich der Kontrakt jetzt befindet?«
Bondi schüttelte entmutigt den Kopf. »Ich vermute, auch Sie haben verstanden, dass er nicht mehr im Blindrahmen des Gemäldes versteckt ist.«
Ich nickte.
Eine ganze Weile standen wir schweigend zusammen. Bondi drehte nervös an seinem Ring mit dem Kreuzsymbol. Dann reichte er mir die Hand. »Finden Sie den Kontrakt für uns!«, sagte er. »Es könnte die allerletzte Hoffnung für Zehntausende von Menschen sein.«
Ich verließ das Hotel. Bondis Abschiedsworte wirbelten mir durch den Kopf. Das schaffe ich niemals, dachte ich. Ich bin nicht Fridtjof Nansen und rette Tausende von Menschen, aus diesem Holz bin ich einfach nicht geschnitzt.
Andererseits ging es bloß darum, ein Stück Papier zu finden. An und für sich klang das nicht völlig unmöglich.
Ich ging über den Lilletorg und lief die Elvegate hinunter. Plötzlich fiel mir ein Wagen auf, der einsam auf einem Parkplatz am Akerselv stand. Unwillkürlich fing mein Herz an zu klopfen.
Es war Lennart Winthers schwarzer Chrysler.
Der schwarze Chrysler
Ich konnte nicht erkennen, ob jemand im dunklen Wageninnern hinter dem Steuer saß. Nach längerer Überlegung entschied ich mich, näher heranzugehen. Es war, als hätte mich eine instinktive Furcht ergriffen vor diesem schwarzen Wagen mit ausgeschalteten Scheinwerfern - aber vielleicht war es auch eine Vorahnung. Nachdem ich mich versichert hatte, dass keine Menschen
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