Der Spion, der aus der Kälte kam
- schon früher hätte tun sollen.
Es gab ihm zu denken, dass in keinem der fotografierten Protokolle die Seiten numeriert waren, dass keines den Stempel »geheim« trug und dass in der zweiten und vierten Kopie Blei- oder Farbstiftkorrekturen angebracht waren. Das brachte ihn schließlich zu einer wichtigen Schlußfolgerung: dass Fotokopien nicht von den Protokollen selbst gemacht worden waren, sondern von den Entwürfen. Wenn das so war, so mußte die Informationsquelle im Sekretariat zu suchen sein, und das Sekretariat war sehr klein. Die Entwürfe waren sehr gut und sorgfältig fotografiert worden: der Fotograf hatte also Zeit und einen eigenen Raum gehabt. Leamas nahm sich wieder das Personenverzeichnis vor. Da gab es im Sekretariat einen Mann namens Karl Riemeck, einen früheren Sanitätsunteroffizier, der als Kriegsgefangener drei Jahre in England gewesen war. Seine Schwester hatte bei Kriegsende und dem Einmarsch der Russen in Pommern gelebt, und Karl hatte seitdem nichts mehr von ihr gehört. Er war verheiratet und hatte eine Tochter namens Carla.
Leamas beschloß, auf dieser Fährte sein Glück zu versuchen.
Er ließ in London die Kriegsgefangenennummer Riemecks feststellen. Sie lautete 29012. Das Datum seiner Entlassung war der 10. November 1945. Er kaufte ein ostdeutsches Kinderbuch und malte mit kindlicher Handschrift auf die Innenseite des Deckels: »Dieses Buch gehört Carla Riemeck, geboren am 10. Dezember 1945 in Bideford, North Devon, gezeichnet: Mondraumfrau 29012.« Darunter schrieb er: »Bewerber, die Raumflüge machen wollen, melden sich zur Instruktion bei C. Riemeck persönlich. Ein Bewerbungsformular ist beigefügt. Lang lebe die Volksrepublik des demokratischen Weltraumes!«
Er versah ein Blatt liniierten Papiers mit Spalten für Name, Anschrift und Alter, und schrieb darunter: »Jeder Kandidat wird persönlich befragt. Schreiben Sie an die übliche Adresse und geben Sie an, wann und wo Sie zu sprechen sind. Anträge werden in sieben Tagen erledigt. C. R.«
Er legte das Blatt zusammen mit fünf gebrauchten Hundertdollarnoten in das Buch, das er bei der nächsten Fahrt mit de Jongs Wagen zum üblichen Platz auf dem Beifahrersitz liegenließ. Als Leamas von seinem Spaziergang zurückkam, war das Buch verschwunden. Statt dessen lag eine Tabakbüchse auf dem Sitz. Sie enthielt drei Filmrollen. Leamas entwickelte sie noch in derselben Nacht: Ein Film enthielt wie üblich die Protokolle der letzten Sitzung des Präsidiums; der zweite den Entwurf zu einer neugefaßten Darstellung der Beziehungen Ostdeutschlands zur COMECON; der dritte eine schematische Darstellung der ostzonalen Spionageorganisation, wobei die Aufgaben der einzelnen Abteilungen und besondere Merkmale ihrer Leiter angegeben waren.
Peters unterbrach: »Augenblick«, sagte er, »wollen Sie mir weismachen, dass Riemeck all das geliefert haben soll?«
»Warum nicht? Sie wissen, wieviel er zu sehen bekam.«
»Es ist kaum möglich«, bemerkte Peters, als spräche er zu sich selbst. »Er muß Hilfe gehabt haben.«
»Das hatte er später. Ich komme noch darauf.«
»Ich weiß, was Sie mir erzählen werden. Aber hatten Sie nie das Gefühl, dass er auch Beihilfe von oben gehabt haben muß - nicht nur von den Leuten, die er dann später anwarb?«
»Nein! Nein, das Gefühl hatte ich nie. Mir kam nie der Gedanke.«
»Und wenn Sie jetzt darüber nachdenken: scheint es dann wahrscheinlich zu sein?«
»Nicht besonders.«
»Nachdem Sie all dies Material ins Rondell eingeschickt hatten - ist da nie darauf hingewiesen worden, dass selbst ein Mann in Riemecks Stellung kaum derart umfassende Informationen beschaffen konnte?«
»Nein.«
»Hat man sich jemals erkundigt, woher Riemeck seine Kamera hatte, und wer ihm die Technik der Dokumentarfotografie beigebracht hat?«
Leamas zögerte. »Nein … ich bin sicher, dass nie gefragt wurde.«
»Erstaunlich«, bemerkte Peters trocken. »Entschuldigen Sie, fahren Sie fort. Ich wollte Ihnen nicht vorgreifen.«
Genau eine Woche später fuhr Leamas wieder zum Kanal. Diesmal war er nervös. Als er in den Weg einbog, sah er drei Fahrräder im Gras liegen. Achtzig Meter weiter unten am Kanal saßen drei Männer und fischten. Er stieg wie üblich aus dem Wagen und begann, auf die Baumreihe jenseits des Feldes zuzugehen. Er hatte ungefähr zehn Meter zurückgelegt, als er einen Ruf hörte. Er drehte sich um und sah, dass ihm einer der Männer zuwinkte. Seine beiden Begleiter sahen ebenfalls zu ihm
Weitere Kostenlose Bücher