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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcelo Figueras
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Verwundung. Was sie dazu brachte, sich anständig zu benehmen, war etwas anderes, das sehr wohl ins Auge fiel: Fotos und Souvenirs, die Ciro an den Wänden aufgehängt hatte. Fotos von Flugzeugen, Geschwadern und Aufmärschen. Orden, Titelseiten von Zeitschriften, Ehrenurkunden. Ciro Chomón (das wussten alle) war ein Veteran aus Abelláns Krieg.
    Der Ruf des Cienfuegos resultierte zum Teil aus seiner Lage in Luro, dem Viertel von Santa Clara, in dem sich die Schlachthöfe befanden. (Umsichtigerweise war das Luro-Viertel am höchsten Punkt der Stadt entstanden, dort, wo der Wind den Todesgeruch vertrieb.) Aufgrund dieser Lage bestand ein Gutteil der Klientel aus brutalen, furchteinflößenden Kerlen, was die Kneipe zu einem ausgesprochen diskreten Ort machte. Wenn sich jemand im Cienfuegos allein hinsetzte, um etwas zu trinken, sprach ihn niemand an.
    Deshalb war Ciro das Gespräch überhaupt erst aufgefallen. Den ersten Gast hatte er nicht weiter beachtet. Es war ein kräftiger Mann mit Schiffermütze, Bart und Bierdurst; darin unterschied er sich nicht von den anderen Gästen, und folglich war er unsichtbar. Aber der zweite Gast, der sich neben ihn setzte, hatte seine Neugier geweckt. Er trug einen verschlissenen blauen Anzug. Er roch nach alten Papieren und war offenbar ein Notar. Als wäre sein Erscheinungsbild so nicht schon unpassend genug gewesen, bestellte er auch noch ein Getränk, von dem Ciro noch nie gehört hatte.
    »Das ist ein Likör«, erklärte er. »Hergestellt von den Benediktinern.«
    »Und dies hier ist eine Kneipe, kein Kloster«, sagte Ciro.
    Der Mann gab sich mit einem Bier zufrieden.
    Ciro sammelte das Geld ein und drehte ihm den Rücken zu.
    »Und jetzt?«, fragte der Notar.
    Ciro ging davon aus, es gelte ihm, gab aber keine Antwort. Der Mann gehörte zu der Kategorie von Gast, mit der er nur während des Bedienens sprach. Doch in dem Moment hörte er jemanden antworten: »Ich erwarte eine Entschuldigung«, sagte die Stimme.
    Es war der Mann mit der Schiffermütze. In dem Satz schwang eine gewisse Angriffslust mit, obwohl er ihn seelenruhig ausgesprochen hatte.
    »Ich verstehe nicht«, sagte der Notar.
    Ciro trat einen Schritt zur Seite und fing an, Gläser abzutrocknen, die längst trocken waren.
    »Ich schätze, die Vorsichtsmaßnahmen, die ich ergriffen habe und wegen deren man mich kritisiert, haben sich bereits als sinnvoll erwiesen«, sagte der Seemann.
    Ciro staunte nicht schlecht: Der Mann sah zwar aus wie ein Seemann, aber er sprach nicht wie einer.
    »Genügt meine Entschuldigung?«, fragte der Notar.
    »Sprechen Sie in Ihrem Namen oder im Namen des Komitees?«
    »Ich kann mir keine Vertreterrolle anmaßen, mit der man mich nicht …«
    »Schon gut. Ihre Entschuldigung genügt mir … fürs Erste.«
    Der Notar trank einen Schluck Bier.
    »Das Komitee muss wissen«, setzte er an und holte noch einmal Luft, »es muss wissen, wie weit Sie zu gehen gedenken …«
    »So weit wie nötig«, sagte der Seefahrer.
    »Das Gesetz stellt einem gewisse Hürden in den Weg …«
    »Gesetz? Hürden? Wie Sie sich verändert haben.«
    »Die Zeiten haben sich verändert.«
    »Nichts hat sich verändert. Sie sind immer noch unrechtmäßig an der Macht.«
    »Das stimmt nicht. Die Regierung ist in den Händen von Volksvertretern, die durch Mehrheitswahl bestimmt wurden.«
    »Aber die Macht ist weiterhin in den Händen derselben Leute, und diese Leute schulden unseren Freunden Dank, und der drückt sich in Straffreiheit aus.«
    »Das ist absurd.«
    »Macht ist Straffreiheit, mein lieber Solana.«
    (An der Stelle hob der Notar ruckartig die manikürte Hand; seine Anonymität war ihm kostbar.)
    »Unsere Freunde genießen größtmögliche Freiheit, Doktor … S«, sagte der Seemann mit sichtlichem Vergnügen. »Der Henker Moliner könnte genau hier hinter Ihnen stehen, ohne dass ihn jemand behelligt.«
    Der Notar drehte sich auf seinem Hocker um, als fürchtete er, Moliner könne tatsächlich dort lauern. Und sofort tat es ihm leid, denn genau das hatte der Seemann erreichen wollen.
    »Dann darf ich das also so verstehen, dass Ihr Entschluss …«
    »Nach wie vor feststeht«, ergänzte der Seemann.
    »Werden Sie … es weiter tun?«
    »Es weiter tun …«, sagte der Seemann. »Wenn uns einer zuhört, könnte er glauben, Sie sprechen von der Liebe.«
    Ciro ließ von den Gläsern ab, bückte sich und wühlte hinter der Theke zwischen den Flaschen herum.
    »Wir bleiben in Kontakt«, sagte der Seemann.
    Ciro

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