Der Spion der Zeit
Weg, der ihn in dem Gefühl bestärkte, eine andere Welt zu betreten.
Wie üblich traf er auf ein paar Jugendliche, die ihm auf einer der schmalen Brücken den Weg versperrten. Und wie üblich starrten sie ihn mit unergründlichem Blick an, als würden sie ihn in Wahrheit gar nicht bemerken, und sprangen kurz darauf in das schwarze Wasser, um ihn vorbeizulassen.
Ihr Name war Mei, und sie wohnte in einer Hütte wie all die anderen. Sie hatte einen fünfjährigen Sohn, in dessen Gesicht verschiedene Rassen beheimatet waren. Van Upp öffnete den Vorhang und trat ein. Mei sah ihn an, ohne sich bei ihrer Beschäftigung unterbrechen zu lassen (sie schälte Kartoffeln, die sie in einer Kasserolle abspülte und in Viertel schnitt). Sie fragte ihn nichts und bot ihm nichts an. Schweigend und reglos verharrte Van Upp an der Tür. So musste es wohl sein, wenn man unsichtbar war, dachte er; so müssen sich Engel fühlen, wenn sie die Menschen besuchen, und genauso unwohl fühlen sich die Menschen, wenn sie von Fremdem umgeben sind.
Das Kind saß auf seiner Matte in der Ecke. In seinem Spiel spiegelte sich etwas von der Tätigkeit der Mutter: Es teilte ein Hölzchen in zwei Teile und brach diese dann in zwei Hälften, und dann noch einmal, bis es das Stück Holz nicht weiter teilen konnte und zu einem neuen griff.
»Chi-Chia«, sagte Van Upp und legte sein Mitbringsel auf die andere Matte am Boden. So lautete der Name des Kindes, oder zumindest sprach die Mutter es immer so an.
»Chi-Chia«, wiederholte er. Erst da unterbrach das Kind sein Spiel und musterte das Geschenk. Van Upp zog die Figur auf. Es war ein kleiner Pandabär in karierten Hosen. Als er den Bären zum Laufen gebracht hatte, machte dieser ein paar kleine Schritte, trank aus einer Limonadenflasche und biss in ein Sandwich. Doch schnell stellte Van Upp fest, dass die grobe Matte nicht die geeignete Oberfläche war. Der Bär blieb hängen und stürzte. Van Upp zog ihn nochmals auf, und wieder ging es schief.
Mei würdigte ihn weiter keines Blickes. Chi-Chia sah nicht ihn an, sondern den kleinen Bären, der sich in seinen Händen wand.
Van Upp fragte sich, was das für eine Welt war, in der es eine reine Wunschvorstellung blieb, Freude schenken zu können.
XXIV
Zu seiner eignen Überraschung brauchte Benet nicht besonders lang, bis er etwas über Van Upps wahre Herkunft herausgefunden hatte. Ein paar Telefonate, zwei davon ins Ausland, ein paar Besuche, auf eine Postsendung warten – das war alles. Der Polizeichef hatte am Ende doch nicht so falsch gelegen, offenbar war er ein Naturtalent. Hier die Kurzfassung seiner ersten Resultate:
Van Upps Mutter, Vorname Virginia, hatte zwischen 1934 und 1952 in Hollywood gearbeitet; unter anderem war sie an der Produktion von Gilda beteiligt gewesen.
Nach einer Reihe von Versuchen als Drehbuchautorin war Virginia Van Upp die Vertraute des Chefs der Columbia Pictures, Harry Cohn, geworden, in Hollywood als »Harry the Horror« bekannt, oder als »White Fang«, wie Ben Hecht ihn nannte. Cohns Leben ließ das Herz eines jeden Biografen des amerikanischen Traums höher schlagen (er war Laufbursche in einem Musikverlag gewesen, Pelzverkäufer, Pool-Billard-Profi, Busfahrer und Vaudeville-Darsteller), und Anfang der vierziger Jahre hatte er sich einen wohlverdienten Ruf als Tyrann erarbeitet. Die Filmstudios führte er wie ein Despot: Er verfügte über ein ganzes Netz an Informanten, und man sagte ihm sogar nach, er habe an den Sets, in den Garderoben und Büros Mikrofone installieren lassen, um genau mitverfolgen zu können, was vor sich ging oder was man über ihn redete.
Die Tatsache, dass Cohn die Karriere von Rita Hayworth in Virginia Van Upps Hände legte, zeigt, welch großes Vertrauen er in sie hatte. Damals war die Hayworth nur noch einen Seufzer weit davon entfernt, zur Liebesgöttin des internationalen Films gekürt zu werden. Ihr Bild auf dem Titelblatt von Life war überall zu sehen, wo amerikanische Soldaten stationiert waren; es heißt sogar, es habe die Atombombe geziert, die auf das Bikini-Atoll fiel. Zu ihrer Weihe fehlte ihr bloß noch ein Film. Für Cohn sollte Gilda dieser Film werden.
Einige Monate vor Drehbeginn war Virginia Van Upp nach Argentinien gereist, um sich mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut zu machen. (Die Geschichte des Gangsters Johnny Farrell, mit Glenn Ford in der Hauptrolle, spielt in einem Kasino in diesem lateinamerikanischen Land.) Mittels einer Reihe von Telegrammen,
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