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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcelo Figueras
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die Elévations sur les Mystères von Bossuet. Er las: »Ich hatte ihn geschaffen, damit er spirituell im Fleische sei; und siehe da, er wurde sogar im Geiste fleischlich.«
    »Bekennt sich irgendeine politische Gruppierung zu den Verbrechen?«, fragte Moliner.
    »Bis jetzt nicht.«
    »Ich wünschte, man würde mir die Wahrheit sagen und mich nicht mit diesen Halbheiten abspeisen, die man den Journalisten auftischt.«
    »Ich möchte Ihnen nur mitteilen, dass Sie von jetzt an unter Polizeischutz stehen. Vierundzwanzig Stunden. Das hätten Ihnen auch die Beamten gesagt, die Sie nicht empfangen wollten.«
    Moliner rückte seine Brille zurecht; seine Pupillen sahen auf einmal merkwürdig groß, rund und schwarz aus.
    »Ich wollte Sie kennenlernen«, sagte er.
    Van Upp fühlte sich unbehaglich. Dass der Henker Moliner sich für ihn interessierte, erfüllte ihn mit unerklärlichem Stolz, und er schämte sich dafür.
    »Sie müssen mich mit jemandem verwechseln«, sagte er. »Ich habe keinerlei Erfahrung mit politischen Verbrechen.«
    »Jedes Verbrechen ist politisch. Verzeihung, ich war unhöflich. Möchten Sie etwas trinken? Vielleicht einen Likör?«, fragte der Exmilitär und nahm eine halbleere Flasche aus dem Regal. »Er ist hausgemacht. Von den Benediktinern hier in der Nähe, im Kloster Guaro.«
    Der Ermittler schüttelte den Kopf. Moliner füllte ein Glas fingerhoch (es klebte bereits eine Schicht in der Farbe des Likörs darin) und stürzte es auf einen Schluck hinunter.
    »Darf ich das Haus verlassen?«
    »Selbstverständlich«, sagte Van Upp. »Aber ich würde Ihnen empfehlen, die Ausflüge auf das Nötigste zu beschränken.«
    »Ich pflege kein sehr intensives gesellschaftliches Leben. Aber auf meinen täglichen Messbesuch möchte ich nicht verzichten. Es wäre doch der denkbar schlechteste Moment, meine Seele zu vernachlässigen, meinen Sie nicht?«
    XXVII
    Die üppige Vegetation in Moliners Garten wurde ihm zum Verhängnis; als er sie bemerkte, hatten sie sich schon auf ihn gestürzt.
    Van Upp war von einer Wolke von Fotografen und Journalisten umgeben. Er gewahrte das Blitzlichtgewitter, die Rufe, das Gebell der Bulldoggen, die Hände, die sich um ihn rissen.
    Unter den Rufen vernahm er einen besonders deutlich: »Und was jetzt?«, wurde er gefragt.
    Ein anderer lautete: »Es ist Ihre Schuld.« Das ärgerte ihn. Wofür sollte er sich schuldig fühlen? Er erinnerte sich an den Satz von Chesterton, Journalismus bestehe darin, Leuten zu erzählen, »Lord Jones sei gestorben«, die vorher nicht einmal wussten, dass Lord Jones überhaupt gelebt hat.
    Nach dem hundertsten Blitz sah er nichts mehr. Er taumelte. Immer mehr Körper schienen sich um ihn herum zu drängen. Er bekam keine Luft.
    Eine Hand fasste ihn am Arm und zog ihn fort. Dieselbe Hand, oder zumindest eine mit derselben Kraft, legte sich auf seinen Hinterkopf und drückte ihn nach unten, als wollte sie ihn in eine demütige Haltung zwingen. Er sträubte sich. Am Ende gab er nach und stellte fest, dass die Haltung angebracht war; die Hände, die Blitzlichter, die Stimmen waren sofort verschwunden.
    Er befand sich in einem Wagen.
    »Alles in Ordnung?«
    Die Stimme von Nora.
    Rasant fuhr das Auto an.
    Van Upp blinzelte ein paarmal, er sah immer noch Sterne.
    »Was ist los?«, wollte er wissen.
    »Prades«, sagte Nora.
    »Was ist mit Prades?«
    »Sie haben seinen Wagen gefunden. Das Coupé. Auf dem Seitenstreifen mit offenen Türen. Es gibt keinerlei Kampfspuren. Das Gepäck wurde allem Anschein nach nicht angerührt.«
    »Soll das heißen, er …«
    »Genau«, sagte Nora. »Er ist verschwunden.«

Zweiter Teil
     
    As flies to wanton boys, are we to
Th’gods. They kill us for their sport.
     
    William Shakespeare,
    King Lear, Vierter Akt, Erste Szene

I
    Van Upp hatte nie daran gezweifelt, dass er Van Upp war.
    Anfangs hatte er lediglich gewusst, dass es da etwas Böses in ihm gab, etwas Abnormes, das nach Heilung verlangte. Während des Zusammenbruchs war diese fordernde Stimme seine einzige Gewissheit gewesen.
    Die erste Erinnerung, von der sich ihm Bild, Klang und Empfindungen eingeprägt hatten, stammte aus der psychiatrischen Klinik. Aufblitzendes Licht, ein abgehacktes Röcheln, das, wie er bald feststellte, aus ihm selbst kam: sein Atem. Immer wenn er ausatmete, hatte er Angst, danach völlig leer zu sein. Außerdem erinnerte er sich an einen von Kopf bis Fuß weiß gekleideten gesichtslosen Mann, von dem er nur die Augen wahrgenommen hatte, und

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