Der Spion der Zeit
Bibliothek ihre Türen für das Publikum öffnete. Der Preis, den man dafür verlangt hatte, ihn außerhalb der Öffnungszeiten hineinzulassen, war eine Frechheit, aber er hatte ihn gern bezahlt. Der stellvertretende Direktor schlief irgendwo in seinem Sessel; er hatte sich damit abgefunden, dass er nicht mehr nach Hause kam.
»Dam.« Blut auf Hebräisch.
Schritte. Nein, nicht vom Bibliothekspersonal. Nora. Er könnte schwören, dass es Nora war. Eine Gewissheit, die ihm die Kälte vertrieb. Alles, was für sie sprach, drückte sich bereits im Tock, tock ihrer Absätze auf den Bodenfliesen des Lesesaales aus, ein Rhythmus von gleichbleibender Intensität und Hartnäckigkeit.
»Guten Morgen, Nora.«
Nora lächelte. Sie hielt es für eine ironische Bemerkung, schließlich waren nicht mehr als zwei Stunden vergangen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten.
Sie brannte darauf, Van Upp zu den Büchern zu befragen, die über den Tisch verstreut lagen, insbesondere zu dem, das er gerade vor sich hatte: der respekteinflößende Umfang, die seltsame Schrift. Sie hätte so viele Fragen gehabt. Stattdessen überreichte sie ihm einen Zettel mit einer Telefonnummer. Van Upp kam sie bekannt vor. Ein Blick in seine Handfläche, und er war beruhigt: Sie war sauber.
Er benutzte das Telefon am Empfang; es war niemand da, der ihn aufgehalten hätte. Nach einmaligem Klingeln wurde sofort abgehoben.
»Prades?«
»Na endlich.«
»Ich habe nicht viel Zeit, ich bin gerade mitten …«
»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich verschwinde.«
»…«
»Seien Sie unbesorgt. Ich habe etwas zu erledigen, und wenn ich unterwegs bin, wird der Mörder mich nicht finden.«
»Meine Männer werden Ihnen folgen.«
»Ihre Männer frühstücken gerade in meiner Küche. Bis Sie die erreicht haben, bin ich schon über alle Berge. Kennen Sie Moliner?«
»Bislang noch nicht.«
»Schade. Ich hätte zu gern gewusst, was Sie von ihm halten. Die meisten lassen sich von seinem Auftreten täuschen. Sie halten ihn für sanftmütig. Wenn Sie meinen Rat hören wollen, bleiben Sie an ihm dran. Man sollte den Windhund im Rennen nicht zu weit vorpreschen lassen.«
XXIII
Im Westen Santa Claras lag das Gebiet mit Namen Los Bajos, wo sich das Chinesenviertel befand: zehn Hektar Senke, die sich beim kleinsten Regenschauer in ein Sumpfgebiet verwandelte. Jahrzehntelang war Los Bajos eine Müllkippe gewesen. In den ersten Jahren des Militärregimes hatten Tausende von Exekutionen dort stattgefunden; ein Schuss, und ab hinunter in den Schlamm. Ein makabrer Scherz damals lautete, das Problem mit den Überschwemmungen sei gelöst, man könne jetzt über die Leichen gehen.
Einige Zeit später, als die Prätorianer die Gemetzel einstellten, um sich auf ihren Traum vom großen Geld zu konzentrieren, siedelten sie dort Hunderte von chinesischen Einwanderern an. Wie Vieh wurden sie in Sandlastern dorthin befördert. Man ließ ihnen Nahrungsmittel für ein paar Tage, Schaufeln und Abfallsäcke da, und innerhalb eines Monats hatten sie ein Dorf mit Brücken anstelle von Straßen errichtet.
Die Prätorianer öffneten den asiatischen Einwanderern Tür und Tor, denn sie waren überzeugt, mit den neuen Arbeitskräften die Lohnkosten um die Hälfte senken zu können. Trinidad sollte zum neuen Taiwan werden, zu einem Land, das bei den internationalen Großkonzernen gefragt war, weil dort die Produkte zum weltweit günstigsten Preis gefertigt werden konnten. Nur zwanzig Prozent der Einwanderer kamen auf legalem Weg ins Land und wurden nach der Musterung von den machtkonformen Firmen aufgenommen, wo man drei von ihnen zu einem Lohn einstellte, den zuvor ein einheimischer Arbeiter für sich allein beansprucht hatte. Die anderen Einwanderer wurden direkt vom Hafen in die Schuh- und Bekleidungs- oder die Fischfabriken gefahren, die den Prätorianern, ihren Verwandten und Strohmännern gehörten. Dort war das Lohnverhältnis sechs zu eins. Für die Arbeiter gab es keinerlei medizinische Versorgung, bis eine Krankheit ausbrach, die man für Skorbut hielt, und man zu der Überzeugung gelangte, dass eine Epidemie der Wirtschaft großen Schaden zufügen würde.
Immer wenn Van Upp in das Chinesenviertel fuhr, genoss er den Übergang von den verwinkelten Gassen des Judenviertels und der gezackten Kontur der Kathedrale von Santa Clara zur rauhen Wirklichkeit der Hütten und Brücken. Er ließ seinen Wagen stehen und folgte zu Fuß dem Zickzackkurs der Steintreppe. Ein angenehmer
Weitere Kostenlose Bücher